Erlösung
wohl.
Und jetzt dieses Dilemma.
»Entschuldige, Isabel«, sagte er leise. »Ich bin zu weit gegangen, viel zu weit, ich weiß. Bitte entschuldige. Ich war nur einfach so wahnsinnig scharf auf dich – und bin es immer noch. Du darfst nicht ernst nehmen, was ich heute Nacht gesagt hab. Ich wusste nur einfach nicht, was ich machen sollte: zugeben, dass ich verheiratet bin und Kinder hab, oder dich anlügen? Ich setz doch meine Ehe und meine ganze Familie aufs Spiel, wenn ich mich noch mehr auf dich einlasse. Und ich war auf dem besten Weg, das zu tun. Alles aufzugeben. Ja, ich war echt in Versuchung. Ich war so sehr in Versuchung, dass ich einfach alles über dich wissen musste. Ich konnte nicht anders. Ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Verstehst du das nicht?«
Sie sah ihn höhnisch an, während er fieberhaft überlegte, was er dort auf der Eisscholle tun sollte. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde ihn der Eisbär nicht grundlos umbringen. Wenn er wegfuhr und sich nie mehr in dieser Gegend blicken ließ, dann würde sie ihren Bruder nicht damit belästigen, Informationen über ihn einzuholen, warum sollte sie? Würde er sie allerdings umbringen oder entführen, gäbe es einenAusgangspunkt für Nachforschungen. Selbst die gründlichste Reinigung würde nicht alle Schamhaare, Spermaflecken und Fingerabdrücke beseitigen. Auch wenn man ihn in keiner Kartei fand, würden sie in der einen oder anderen Weise ein Täterprofil von ihm erstellen. Er könnte die Hütte abfackeln, aber was, wenn die Feuerwehr rechtzeitig kam oder jemand ihn wegfahren sah? Nein, das war zu unsicher. Außerdem hatte ein Polizist namens Karsten Jønsson das Kennzeichen seines Lieferwagens und damit auch die Beschreibung des Fahrzeugs. Ja, womöglich hatte sie ihren Bruder sogar mit Details über seine Person versorgt.
Er starrte in die Luft, während sie jede seiner Bewegungen genauestens verfolgte. Er war zwar ein Experte im Häuten, und er trat nie ohne Verkleidung auf. Trotzdem konnte die E-Mail an ihren Bruder genaue Angaben zu seiner Größe, seinem Körperbau, seiner Augenfarbe und womöglich noch intimere Details enthalten. Kurz gesagt hatte er keine Ahnung, welche Informationen über ihn sie weitergegeben hatte. Und genau damit stand es auf der Kippe.
Er sah sie an, sah ihren harten Blick, und da wurde es ihm schlagartig klar. Sie war kein Eisbär. Sie war ein Basilisk. Schlange, Hahn und Drache in einem. Und sah man einem Basilisken ins Auge, wurde man zu Stein. Ja, allein dadurch, dass man die Bahn des Basilisken kreuzte, war man zum Tode verurteilt. Niemand konnte wie der Basilisk seine Version der Wahrheit in die Welt hinauskrähen. Niemand. Und er wusste, nur der Anblick seines eigenen Spiegelbildes konnte dieses Untier töten.
Deshalb sagte er: »Egal was du sagst und tust, Isabel, ich werde immer an dich denken. Du bist wunderschön, du bist einfach phantastisch, und ich wünschte, ich wäre dir früher begegnet. Jetzt ist es zu spät. Ich bitte dich um Verzeihung. Ich hab dich nicht verletzen wollen. Du bist ein wunderbarer Mensch. Entschuldige.«
Und dann streichelte er ihr zärtlich über die Wange. Anscheinend wirkte das. Jedenfalls zitterten kurz ihre Lippen.
»Ich finde, du solltest jetzt gehen. Ich will dich nie mehr sehen«, sagte sie, aber sie meinte es nicht.
Lange würde sie darum trauern, dass es vorbei war. So etwas wie mit ihm erlebte man in ihrem Alter schließlich nicht mehr alle Tage.
In diesem Moment sprang er von der Eisscholle auf eine andere. Weder der Basilisk noch der Eisbär würden ihm folgen.
Als sie ihn gehen ließ, war es noch nicht einmal sieben.
16
Er rief seine Frau wie üblich gegen acht Uhr an. Kam aber immer noch nicht auf die Streitfrage zu sprechen, sondern erzählte von Erlebnissen, die er nicht gehabt hatte, und von Gefühlen, die er in dem Moment nicht für sie empfand. Am Ortsausgang von Viborg hielt er kurz an und machte auf der Kundentoilette des Supermarkts Løvbjerg Katzenwäsche. Über Hald Ege fuhr er weiter nach Dollerup, wo Samuel und Magdalena auf ihn warteten.
Nichts sollte ihn jetzt noch bremsen. Das Wetter war einigermaßen okay. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit würde er am Ziel sein.
Der Duft frischer Brötchen empfing ihn. Samuel hatte trotz seines schlimmen Knies morgens schon trainiert. Magdalenas Augen funkelten erwartungsvoll.
Beide waren sie gespannt und freuten sich auf den Ausflug.
»Was meint ihr, sollen wir erst beim Krankenhaus vorbeifahren,
Weitere Kostenlose Bücher