Erlösung
hangelte ich mich wieder an den Felsen oberhalb des Meeres entlang, den anderen hinterher. Die Sonnenstrahlen dehnten sich am Himmel aus. Sie verdrängten ein paar Wolken und plötzlich erhaschten sie einen Teil meiner Beine. Ich stoppte für einen Augenblick meinen Aufstieg an den Klippen. In meinem Innersten brodelte es, ich fing beinahe an zu zittern. Dann breitete sich das Licht hastig über meinen gesamten Körper aus. Und es passierte… nichts.
„Grundgütiger“, stieß ich leise hervor. Es lebe das einundzwanzigste Jahrhundert.
Ein Verlangen, das ich nicht erwartet hatte, überkam mich urplötzlich. Alles in mir wollte ins Licht schauen. Es war so lange her gewesen, dass ich die Sonne wirklich gesehen hatte. Natürlich musste ich blinzeln, wie ein normaler Mensch, doch das war mir egal. Wenigstens für ein paar Sekunden war es wie früher.
„Wie ist so etwas nur möglich? Warum haben wir so einen Hightechanzug nicht schon eher entdeckt?“ Es sollte nicht respektlos klingen, aber mein Unverständnis war trotzdem deutlich herauszuhören.
„Weil so eine Waffe unentdeckt bleiben muss. Schließlich soll es ein ungleicher Kampf werden. Wir wollen doch nicht, dass sich demnächst auch Neuankömmlinge so kleiden, nicht wahr?“ Lucas Worte klangen vernunftgemäß. Darauf hätte ich selbst kommen können. Immerhin wäre das nicht nur gefährlich, sondern auch ziemlich unpraktisch, denn man würde gewiss auch unter den normalen Leuten mit so einem Outfit auffallen. Unsereins war darauf bedacht unsichtbar zu sein, aber Abtrünnige scherten sich um nichts und niemanden.
„Und wie gesagt, es ist ein unerprobtes Material. Wir müssen sehen, wie lange es uns wirklich schützen kann.“ Nicht sehr ermutigend. Doch da ich der jüngste im Bunde war, hatte ich zumindest die besten Chancen am längsten unversehrt zu bleiben. Ich wollte mir erst gar nicht vorstellen, was die UV-Strahlen mit einem Ältesten anstellen würden, wenn sie ihn voll trafen. Das würde einem Selbstmordakt gleich kommen, vor allem, wenn in der Nähe kein Unterschlupf war, in dem man Schatten suchen konnte…
Vincent hob kurz einen Arm, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. „Wir teilen uns auf“, wies er an. „Nicholas, du kommst mit mir.“ Er änderte blitzschnell seine Richtung und sprang über einen Felsvorsprung nach oben, zurück auf das Festland. Ich blieb an seiner Seite, ohne darauf zu achten wohin die anderen Ältesten verschwanden. Mein Schöpfer huschte wie ein Schatten weiter über das offene Gelände, um zu einer kleinen Baumgruppe zu gelangen. Ich war direkt hinter ihm.
„Nicholas“, begann er auf einmal. „Du weißt nicht, wie ein Kampf unter uns aussieht. Alexander war nur einer, hier könnten es im schlimmsten Fall noch einige andere Älteste sein. Um heil aus dieser Sache herauszukommen, ist es wichtig, dass du alles ablegst, was dich belasten könnte. Also, tu´ was ich dir sage und schalte deinen Verstand aus.“ Ich hatte schon verdammt lange nicht mehr so einen Befehlston von ihm gehört. Vincent schob sich ein Stück näher an einen Baumstamm heran, sodass sein halber Oberkörper im Schatten lag. Er riss sich die Maske vom Kopf und sah mich abrupt an. In seinem Blick lag rein gar nichts. Dunkle, braune Augen, die undurchsichtiger nicht hätten sein können. „Ich habe dich immer gelehrt deine Tugenden weitestgehend zu behalten“, bemerkte er flüsternd, „ und dein Pflichtbewusstsein geht über alle Maßen. Etwas, das besonders ist und das ich bewundere, nur heute nicht.“ Seine Augen fingen jäh an zu leuchten, goldbraune Funken, die um seine Iris tanzten. „Hier und jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten, wenn du Lesley noch mal sehen willst, dann vergiss´ alles. Keine Regeln, keine Kontrolle mehr!“ Auf einmal kam ich mir vor wie Peter, er hätte in früheren Zeiten für so eine Aussicht wohl alles getan. Aber ich war nun einmal nicht er. Alles in mir sträubte sich dagegen, denn ich hatte gesehen, was es mit mir gemacht hatte. Liz war beinahe von mir getötet worden, ich hatte ihr wehgetan… wie konnte ich da wieder zulassen, dass diese unbeschreibliche Wut Besitz von mir ergriff?
„Vincent, ich kann nicht…“
„Das ist kein Rat, Nicholas“, sein Blick wurde durchdringender und sein Tonfall schärfer. „Das ist eine Order. Du kannst nicht bestehen, wenn du mir nicht vertraust. Schalte dein Gewissen aus und lass zu, dass dieses dunkle Gefühl in dir an die Oberfläche schwappt. Ich fürchte, du
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