Erloschen
Panik zu geraten oder zu tief in ihre eigene Psyche einzutauchen. Als sie entdeckte, dass sie beide ein Faible für alte Filme hatten, nutzte Ben es, um Maggie in eine andere Welt zu transportieren. Er hatte ihr vorgemacht, wie man der Realität entfloh und so bei Verstand blieb.
Dr. Benjamin Platt – Army-Colonel, Wissenschaftler, Soldat – war einer der stärksten und gleichzeitig sanftesten Männer, die sie kannte. Es gab Momente, in denen er sie ansah und ihr war, als guckte er ihr direkt in die Seele. Er verstand sie, manchmal sogar besser als sie sich selbst. Und was sie in den letzten Monaten für ihn zu empfinden begann, jagte ihr eine Höllenangst ein.
Er bot an, sie nach Hause zu fahren. Ihr Wagen stand noch am Brandort, und sie bat ihn, sie stattdessen dorthin zu bringen. Außerdem wollte sie weiterermitteln. Kunze sollte nicht mehr gegen sie in die Hand bekommen, als er mit dem kleinen Abstecher in die Notaufnahme ohnehin schon hatte.
Ben schlug vor, dass sie erst einmal frühstückten. Bevor er wieder in die Arztrolle zurückschlüpfte, fragte Maggie: »Bist du sicher, dass du Zeit hast? Du siehst aus, als hättest du noch etwas Wichtiges vor.«
Beinahe hätte sie im Scherz gefragt: »Wer ist denn gestorben?«, doch als Ben sagte, dass er später noch zu einer Beerdigung musste, war sie froh, dass sie es sich verkniffen hatte. Noch ein Soldat, noch ein Kamerad, der in einer Kiste heimgekehrt war.
Sie kapierte nicht, wie Ben angesichts all des Sterbens um ihn herum so stark und zuversichtlich bleiben konnte. Als sie ihn einmal danach fragte, hatte er gesagt, dasselbe würde er über sie denken.
»Aber meine Toten sind Fremde«, hatte Maggie gesagt. Was nicht ganz stimmte. Wenn sie die Akte zu einem Mordfall schloss, wusste sie meist mehr über das Opfer als die nächsten Angehörigen. Und manchmal waren die Opfer auch Leute, die sie kannte. Immer aber wusste sie sehr viel mehr über die Mörder, als ihr lieb war.
Sie entschied sich für das McDonald’s an der Interstate. Maggie ließ Ben bestellen, während sie einen ruhigen Ecktisch suchte, wo sie mit dem Rücken zur Wand sitzen konnte. Es war eine alte Gewohnheit, die ihr erst bewusst geworden war, als sie öfter mit Ben ausging. Er wollte nämlich denselben Platz im Restaurant, und beide hatten gelacht, weil sie unbedingt so sitzen wollten – mussten –, dass sie die Türen sehen und sich ihnen niemand von hinten nähern konnte.
Was für ein seltsames Paar sie abgaben: Eine Frau, die an jeder Ecke mit Mördern rechnete, und ein Soldat, der immerfort nach versteckten Bomben oder Selbstmordattentätern Ausschau hielt. Und zugleich fand Maggie die Ähnlichkeiten irgendwie beruhigend. Sie hatte noch nie einen Mann kennengelernt, der sie so gut verstand und der sie vor allem so nahm, wie sie war, mitsamt allen verrückten Eigenarten. Heute Morgen jedoch herrschte beklemmende Stille zwischen ihnen. Maggie wusste, dass Ben enttäuscht war, weil ihr erster Impuls nicht gewesen war, ihn anzurufen.
Alle Erklärungen würden nichts nützen. Er kannte den Grund und akzeptierte ihn. Was nicht hieß, dass er ihm gefiel. Eigenbrötlerisch zu sein war nicht dasselbe wie gern allein zu sein. Maggie war seit ihrer Scheidung allein; eine Eigenbrötlerin war sie schon seit ihrem zwölften Lebensjahr. Damals hatte sie gelernt, sich auf niemanden außer sich selbst zu verlassen. So konnte man auch nicht enttäuscht werden. Und, was noch wichtiger war, man wurde nicht verletzt.
Sie beobachtete Ben in der Schlange vorm Tresen. Er sah so verdammt gut aus. Sie schaute sich um und bemerkte die Blicke der anderen Frauen. Die Art, wie er sich bewegte, die breiten Schultern nach hinten gestreckt, das Kinn nach oben und die Augen wachsam, hatte etwas sehr Elegantes.
Racine bezeichnete ihn als »zu geschniegelt«, doch nachdem sie letzten Herbst mit Ben zusammen an einem Vergiftungsfall in einer Schule gearbeitet hatte, respektierte selbst sie ihn. In der Uniform wirkte er tatsächlich sehr streng und extrem korrekt. Allerdings hatte Maggie ihn schon oft genug ohne gesehen und wusste entsprechend, dass dieser Mann sich bestens darüber im Klaren war, wer er war und was er konnte – und das in Uniform wie auch splitternackt.
In dem Augenblick dämmerte es ihr. Das Offensichtliche traf sie wie eine Ohrfeige. Für Ben war ein Anruf von ihr keine Frage der Höflichkeit oder des Pflichtgefühls. Er hatte gehofft, dass es selbstverständlich wäre, dass sie instinktiv zum
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