Erloschen
Burg. Für ihn ist es ein Gefängnis.«
Sie leerte den Rest ihres Glases, bevor Patrick auch nur an seinem genippt hatte.
30
»So lange war er noch nie weg«, sagte Maggie am Telefon zu Lucy Coy.
»Jake kann auf sich selbst aufpassen. Bei mir war er immer tagelang weg.«
»Aber das war auf dem Land, wo er den Wald, die Mais felder und frische Kaninchen hatte. Straßenverkehr und bewaffnete Nachbarn sind ihm fremd.« Sie bemühte sich, ihre Angst nicht durchklingen zu lassen. Zudem wusste sie selbst nicht, wieso sie die Geschichte so mitnahm. Vielleicht war sie einfach nur erledigt. Zu wenig Schlaf, das Feuer, die Wunde, das seltsame Erlebnis unten in der Kanalisation … Jakes Verschwinden war nach dem langen Tag einfach zu viel.
»Jake hat mir das Leben gerettet«, sagte Maggie. »Und wie danke ich es ihm? Ich schleppe ihn tausenddreihundert Meilen weit weg von allem und jedem, was ihm vertraut ist.«
»Du fasst es als Kritik an dir auf, dass er abgehauen ist.«
»Ist doch auch so, oder?«
»Er guckt sich bloß die neue Umgebung an.«
»Nach fast vier Monaten kann die so neu nicht mehr sein.«
»Aber er muss sein Revier markieren. Es für sich erobern, wenn man so will.«
»Nein, er flieht aus dem Gefängnis, in das ich ihn gesteckt habe.«
Lucy Coy lachte. Sie lachte selten, doch wenn, dann hörte es sich melodisch und echt an. Es war außerdem ansteckend, denn Maggie lachte ebenfalls.
Sie rieb sich die Augen und atmete tief durch. Ja, sie war übertrieben ängstlich und albern. Nach dem anstren genden Tag setzte ihr Verstand aus. Sie hatte zwanzig Minuten gebraucht, um sich den Brandgestank, den Krankenhausgeruch und die Abwasserdünste aus dem Haar und von ihrer Haut zu waschen.
»Wir können die wilde Seite in Jake nicht zähmen.«
Ja, die Frau, die Maggie so fasziniert hatte, als sie in ihrem Haus in den Sandhills von Nebraska untergekommen war, besaß eine philosophische Ader.
»Kann es sein«, fuhr Lucy fort, »dass du deshalb so beunruhigt bist, weil in dir dieselbe Wildheit schlummert?«
Maggie grinste und versuchte, jenes »Aha«-Gefühl abzuschütteln, das Lucy so gerne in ihr hervorkitzelte. Bevor sie Lucy Coy kennenlernte, hatte ein County-Sheriff von ihr als »dieser verrückten alten Indianerin« gespro chen. Die pensionierte Mordermittlerin der Nebraska State Patrol war allerdings nicht im Entferntesten verrückt oder alt. Adjektive wie »anmutig«, »nachdenklich«, »diszipliniert« und »weise« trafen es eher. Lucy war sehr viel weiser, als es ihre etwas über sechzig Jahre nahelegten. Und Maggie hatte in ihr eine verwandte Seele erkannt. Dass Lucy sie einmal beiläufig einen nonkonformen Geist genannt hatte, deutete Maggie als Kompliment, und so war es auch gemeint.
»Hast du nicht erzählt, dass hinter deinem Haus ein Fluss verläuft?«
»Ja.«
»Das klingt nach dem idealen Jagdrevier für ihn.«
Der Fluss war einer der Gründe, weshalb Maggie das Haus gekauft hatte. Die steilen Uferhänge zu beiden Seiten bildeten eine natürliche Barriere, so als hätte sie einen eigenen Burggraben.
Lucys Stimme beruhigte sie etwas, als Maggie das rhyth mische Trommeln von Regentropfen auf dem Glas der Verandatür hörte. Sie sprang sofort auf und sah hinaus in den dunklen Garten. Harvey stand dicht an ihrer Seite. Kahle Bäume winkten mit ihren Astgerippen.
»Es fängt an zu regnen«, sagte sie. »Das könnte über Nacht Schneeregen werden.«
»Letzten Winter war er eine ganze Nacht draußen, nachdem es geschneit hatte. Bei Temperaturen unter null. Ich habe keine Ahnung, wie und wo er sich warm hielt.«
»Und ging es ihm gut, als er wieder da war?«
»Er hat ein halb gefressenes Kaninchen mitgebracht und mir auf die Veranda gelegt. Teilen war nie ein Problem für ihn, aber in diesem Fall denke ich, dass es ein Friedensangebot war.«
»Bei dir hört es sich an, als hätte er übernatürliche Kräfte.«
Am anderen Ende herrschte Stille, doch Maggie war an Lucys Denkpausen gewöhnt.
»Geh ins Bett und schlaf ein bisschen, Maggie. Jake wird schon nichts passieren.« Und dann ergänzte sie: »Und dir auch nicht.«
»Hoffentlich hast du recht.«
»Mach dich aber darauf gefasst, dass er dir ein Friedensangebot mitbringt. Und hoffen wir mal, dass es nicht der Arm von dem waffennärrischen Nachbarn ist.«
Maggie schmunzelte und beendete das Gespräch. Noch ehe sie das Telefon hingelegt hatte, klingelte es.
Es war Racine. Maggie verkrampfte sich bei dem Ge danken, dass der
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