Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erlosung

Erlosung

Titel: Erlosung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fischer Claus Cornelius
Vom Netzwerk:
das ist der Beweis!«
    Sie müssen es jetzt tun! Ella stand vor dem Monitor im Gang gleich gegenüber vom Fahrstuhl auf der zweiten Etage und dachte, wenn sie es jetzt nicht tun, ist es zu spät, dann kennt die Welt ihre Namen. Die Fahrstuhltüren hatten sich wieder hinter ihr geschlossen. Sie lauschte, versuchte zu hören, ob jemand die
Treppe hochkam, ob ein Lift nach oben oder unten fuhr, aber die Übertragung des Geschehens im Amphitheater war zu laut, der Applaus, die mikrofonverstärkten Stimmen.
    Du hast einen Menschen getötet. Er wollte dich zuerst töten, aber das ändert nichts. Du hast ein Leben zerstört, statt es zu retten.
    Sie lief weiter. Ihr war schwindlig von dem Adrenalin, das durch ihre Adern schoss. Die verletzte Hüfte schmerzte bis zum Hals hinauf. Sie versuchte, sich den Plan des Gebäudes in Erinnerung zu rufen, den sie an der Wand neben dem Notausgang gesehen hatte. Sie war zu weit oben, musste wieder nach unten, aber mit einem anderen Fahrstuhl. Oder über die Treppe, am besten über eine der Treppen.
    Sie lief auf die erste Tür zu und öffnete sie vorsichtig: ein weiterer Gang und an dessen Ende noch eine Tür, die nur angelehnt zu sein schien. Schnell und leise lief sie den hell erleuchteten, mit Teppichboden ausgelegten Korridor entlang und spähte durch den Türspalt. Richtig, ein weiterer Gang, der zur Feuertreppe führte. Die Treppe war leer. Ella achtete nicht auf ihre Schmerzen, rannte die Stufen hinunter, erreichte die nächste Etage. Öffnete die Tür. Auch dahinter ein Flur, verwaist wie die anderen.
    Sie entdeckte einen Bildschirm gegnüber der Garderobe rechts vom Fahrstuhl. Die Kameras zeigten gerade die Bühne mit dem Vorstand und der Geschäftsführung der Banque National d’Alsace. Sie zeigten die große Leinwand, die hinter dem Tisch aufgebaut war und auf der jetzt noch Raymond Lazare zu sehen war, zehnmal so groß wie hinter dem durchsichtigen Rednerpult am Rand der Bühne. Sie zeigten die Gänge neben den Sitzreihen, in denen mehrere Teilnehmer standen, die keinen Sitzplatz gefunden hatten. Sie zeigten die vorderen Reihen der Zuschauer, besonders die, in denen die Großaktionäre saßen. Eine der Kameras verweilte auf fünf Chinesen – schwarze Anzüge, schwarze Brillen, eisige Mienen – in der dritten Reihe.

    Im Foyer erschienen die ersten Leute vom Catering, die Speisen und Getränke auf Rollwagen zu weiß gedeckten Tischen fuhren. Keiner von ihnen schenkte Ella auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Etwas weiter vorn, wo der Gang zum rechten Saalausgang führte, trat ein Sanitäter aus einer Tür und ging in dieselbe Richtung wie sie. Der Sanitäter machte hastige, kurze Schritte, und erst kurz bevor er die Flügeltür zum Amphitheater erreichte, erkannte Ella, dass es gar kein Mann war. In der weißen Hose und der in mattem Rot-Weiß-Blau schimmernden Weste steckte eine Frau.
    Die Frau öffnete die Tür zum Amphitheater. Ohne Ella zu sehen, verschwand sie hinter der Tür, die wieder zufiel. Ella war noch ein gutes Stück entfernt, und jetzt begann sie zu laufen. Das war sie. Das war die Attentäterin vom Flugplatz in Rennes. Sie erreichte die Tür, zog sie auf, schob sich ebenfalls in den nur vom Bühnenlicht erhellten Raum. Sie befand sich dicht an der Bühne.
    Ihr Blick flog über die Köpfe der sitzenden Aktionäre, Tausende von Köpfen, die Gesichter alle auf das Rednerpult gerichtet, wo sich Lazare der noch dunklen Leinwand zuwandte. Ella suchte weiter, suchte die Frau in der Sanitäterweste. Rechts und links von ihr standen Besucher, die keinen Platz mehr gefunden hatten; ein paar saßen auf den flachen Absätzen des Seitengangs. Die Frau war nirgendwo zu sehen, keine weiße Hose, keine bunte Weste außer der, die Ella selbst anhatte.
    Gegenüber, auf der anderen Seite, wurde eine Tür geöffnet, und eine weitere Frau betrat den Saal. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Wie Ella musterte sie die Reihen der Sitzenden und die Seitengänge. Das erlöschende Bühnenlicht warf einen letzten Schimmer auf ihr Gesicht, den leuchtend roten Mund. Anni! Auf der Suche nach einem Platz ging sie den Gang hinunter. Wie in Trance. Wie jemand, der über ein Hochseil balancierte; der den Erdboden nicht mehr spürte.

    Ella bemerkte eine Bewegung links von sich, und als sie hinsah, war da der Mann mit dem

Weitere Kostenlose Bücher