Ernest Hemingway
fiel der Schnee auch manchmal auf die Toten draußen vor dem Verbandsplatz, auf der Seite, die durch den Berg vor dem Bombardement geschützt war. Man trug sie in eine Höhle, die man in die Bergseite gegraben hatte, ehe die Erde gefror. Und in dieser Höhle lag ein Mann einen Tag, eine Nacht und einen Tag, dessen Gehirnstruktur durch einen Granatsplitter in Unordnung gebracht worden war, dessen Kopf zerbrochen war wie ein Blumentopf zerbrochen sein kann, obschon alles durch Membranen und einen geschickt angelegten Verband, der jetzt durchtränkt und hart war, zusammengehalten wurde. Die Krankenträger baten den Doktor, hineinzugehen und ihn sich anzusehen. Jedesmal, wenn sie hineinzugehen hatten, sahen sie ihn, und selbst wenn sie nicht hinblickten, hörten sie ihn atmen. Die Augen des Arztes waren rot und die Lider geschwollen und durch Tränengas beinahe geschlossen. Er sah sich den Mann zweimal an, einmal bei Tageslicht und einmal beim Licht einer Taschenlampe. Auch das hätte eine gute Radierung für Goya abgegeben; ich meine, der Besuch mit der Taschenlampe. Nachdem er sich ihn zum zweitenmal angesehen hatte, glaubte der Arzt den Krankenträgern, als sie sagten, daß der Soldat noch am Leben sei.
«Was wollt ihr. Was soll ich machen?» fragte er.
Es gab nichts, was sie gemacht haben wollten. Aber nach einer Weile baten sie um Erlaubnis, ihn heraustragen und zu den Schwerverwundeten legen zu dürfen.
«Nein, nein, nein!» sagte der Doktor, der beschäftigt war. «Was ist denn los? Habt ihr Angst vor ihm?»
«Wir mögen ihn nicht hören – da drinnen bei den Toten.»
«Hört nicht hin. Wenn ihr ihn da rausholt, müßt ihr ihn nur gleich wieder reintragen.»
«Das würde nichts ausmachen, Herr Stabsarzt.»
«Nein», sagte der Doktor. «Nein. Habt ihr nicht gehört, daß ich nein gesagt habe?»
«Warum geben Sie ihm nicht eine doppelte Dosis Morphium?» fragte ein Artillerieoffizier, der darauf wartete, daß man ihm eine Armwunde verband.
«Glauben Sie, das ist die einzige Verwendung, die ich für Morphium habe? Möchten Sie, daß ich ohne Morphium operiere? Sie haben ja einen Revolver. Gehen Sie raus und schießen Sie ihm eine Kugel durch den Kopf.»
«Er hat schon eine Kugel im Kopf», sagte der Offizier. «Wenn ein paar von euch Ärzten eine Kugel abkriegten, wärt ihr anders.»
«Sehr freundlich von Ihnen», sagte der Doktor und schwenkte eine Zange in der Luft. «Tausend Dank. Und die Augen hier?» Er wies mit der Zange auf sie. «Wie würden die Ihnen gefallen?»
«Tränengas. Wir nennen’s Glück, wenn’s Tränengas ist.»
«Weil ihr aus der Frontlinie rauskommt», sagte der Doktor. «Weil ihr mit euerm Tränengas hierher gelaufen kommt, um abtransportiert zu werden. Ihr reibt euch Zwiebeln in die Augen.»
«Sie sind ja nicht bei Trost. Ich will Ihre Beleidigungen nicht gehört haben. Sie sind verrückt.»
Die Krankenträger kamen herein.
«Herr Stabsarzt», sagte einer von ihnen.
«Macht, daß ihr rauskommt», sagte der Doktor.
Sie gingen hinaus.
«Ich werde den armen Kerl erschießen», sagte der Artillerieoffizier. «Ich bin ein humaner Mensch, Ich lasse ihn nicht weiter leiden.»
«Erschießen Sie ihn nur», sagte der Doktor. «Erschießen Sie ihn. Nehmen Sie die Verantwortung auf sich. Ich werde eine Meldung machen. Verwundeter von Artillerieleutnant auf vorderstem Verbandsplatz erschossen. Erschießen Sie ihn. Los doch, erschießen Sie ihn.»
«Sie sind ja kein Mensch.»
«Meine Aufgabe ist, den Verwundeten zu helfen, nicht sie zu töten. Das ist was für die Herren von der Artillerie.»
«Warum helfen Sie ihm denn nicht?»
«Ich habe es getan. Ich habe alles getan, was ich tun kann.»
«Warum schicken Sie ihn nicht mit der Drahtseilbahn hinunter?»
«Wer sind Sie eigentlich, daß Sie mir hier Fragen stellen? Sind Sie mein Vorgesetzter? Haben Sie den Verbandsplatz hier unter sich? Seien Sie so freundlich, mir zu antworten.»
Der Artillerieleutnant sagte nichts. Die anderen im Raum waren alles Mannschaften; es waren keine anderen Offiziere anwesend.
«Antworten Sie mir», sagte der Doktor und hielt eine Nadel in seiner Zange hoch. «Geben Sie mir eine Erklärung.»
«F… Sie sich selbst», sagte der Artillerieleutnant.
«So», sagte der Doktor. «So, das haben Sie gesagt. Na gut. Na gut. Wir werden ja sehen.»
Der Artillerieoffizier stand auf und ging auf ihn zu.
«F… Sie sich selbst», sagte er. «F… Sie sich selbst. F… Sie Ihre Mutter. F… Sie Ihre
Weitere Kostenlose Bücher