Ernst Bienzle 14 - Bienzle und die lange Wut
Heizungsraums.
Mascha legte dem Jungen eine Decke um die Schultern. »Hast du was gegessen?«
Patrick schüttelte nur den Kopf.
Aus einer der Plastiktüten kramte Mascha einen Schokoriegel hervor und hielt ihn dem Jungen hin. Aber der schob nur ihre Hand weg und begann zu weinen. »Ich will weg hier!«
»Das geht jetzt noch nicht«, sagte Mascha sanft.
»Ich will weg!« Er schluchzte auf.
»Hör auf zu heulen.«
Doch Patrick heulte nur noch mehr, rannte zur Tür und riß sie auf. Mascha war mit ein paar schnellen Schritten bei ihm. Sie packte ihn an den Schultern, wirbelte ihn herum und schlug ihn ins Gesicht.
»Ich hab dir gesagt, mach keinen Scheiß!«
Sie warf ihn rüde in die Ecke zurück, wo die Decken jetzt auf einem Haufen lagen. Patrick blieb so liegen, wie er hingefallen war, starr vor Angst, ein Häufchen Elend. Er vergrub das Gesicht in seinen Armen, schluchzte hemmungslos.
Mascha ging dicht neben ihm in die Hocke. Sie versuchte, mit einem Mal ganz sanft, dem Jungen die Arme vom Gesicht zu ziehen. »Entschuldige. Das wollte ich nicht.«
Langsam nahm Patrick die Arme herunter. »Ich will jetzt doch die Schokolade.«
Mascha reichte ihm sichtlich erleichtert den Schokoriegel.
Gollhofer drehte das ganz große Rad. Als die Nachricht hereingekommen war, daß sich die Entführerin mit dem Kind womöglich in der aufgelassenen Zuckerfabrik in Bad Cannstatt versteckt hielt, trommelte er die gesamte Sonderkommission zusammen, alarmierte das SEK und bat den Präsidenten in die Einsatzzentrale – nicht um ihn um Rat zu fragen, sondern um ihm zu zeigen, wie souverän er die Maschinerie beherrschte.
»Und woher haben Sie den Verdacht, daß die junge Frau sich dort verbirgt?«, fragte der Präsident.
»Eine Schlußfolgerung des Kollegen Gächter, aufgrund seiner Ermittlungen«, sagte Gollhofer, und es war ihm nicht sehr behaglich dabei.
»Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich angeordnet, Gächter ganz aus dem Fall rauszuhalten.«
»Na ja, er hat auf eigene Faust...«
»Es gehört genau zu Ihren Aufgaben, so etwas zu verhindern«, fuhr ihm der Präsident in die Parade.
Gollhofer nahm sich vor, daß ihm Gächter dafür büßen würde.
Patrick hatte sich in den Decken verkrochen und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Mit seinem schokoladeverschmierten Mund sah er ein bißchen wie ein Clown aus.
Mascha schloß die Kammer sorgfältig ab und trat aus dem Gebäude, um Luft zu schöpfen. Sie streunte ein wenig auf dem Gelände herum und pflückte ein paar wilde Blumen und war schon wieder auf dem Weg zurück, als sie plötzlich aufhorchte. Autogeräusche, die näher kamen. Ihr Blick schärfte sich. Aufmerksam schaute sie sich um. Da sah sie ein Auto ohne Licht langsam am Rande des Fabrikgeländes vorbeirollen. Dann entdeckte sie ein zweites, in dessen Karosserieblech sich eine Straßenlaterne spiegelte. Mascha war schlagartig aufs höchste alarmiert. Sie rannte in die Backsteinruine, riß die Tür zur Heizungskammer auf und schrie: »Los, steh auf! Los, los, los, wach auf... Mach schon!«
Sie raffte alles zusammen, was auf dem Boden herumlag, und stopfte es in die Plastiktüten.
Patrick kam nur mühsam zu sich. »Was ist los?«
Mascha zerrte ihn vom Boden hoch. »Wir müssen weg!« Sie schob ihn durch die Eisentür. Dabei fiel ihr eine der Plastiktüten hinunter. Sie bückte sich danach. Patrick sah es und begann im gleichen Augenblick zu rennen. Mascha ließ alles fallen, was sie in den Händen hatte, und setzte ihm nach. Schon nach wenigen Schritten hatte sie ihn wieder eingefangen.
Patrick schrie: »Hilfe! Hilfe! Hiiiiilfe!«
Mascha warf ihn so heftig gegen die Wand, daß er für einen Augenblick das Bewußtsein verlor. Dann packte sie ihn im Genick und stieß ihn vor sich her zu dem Auto.
Der Junge wehrte sich nicht mehr. Er kletterte auf den Rücksitz, rollte sich zusammen und verdeckte sein Gesicht mit den Händen.
Die Sicherheitskräfte verteilten sich auf dem Gelände. Sie waren noch dabei, sich zu orientieren und ihre jeweiligen Positionen einzunehmen, als der Mazda durch das geschlossene Brettertor brach.
»Nicht schießen!«, schrie Gollhofer in sein Funkgerät.
Mascha blendete voll auf und riß das Fahrzeug auf einen schmalen, grasüberwucherten Weg. Einen Polizeibeamten, der sich rasch noch die Zeit genommen hatte und nun an einer halb verfallenen Backsteinwand stand und pinkelte, überfuhr sie dabei um ein Haar. Der Grasweg führte auf eine steile Böschung
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