Ernst Bienzle 14 - Bienzle und die lange Wut
Leerlauf. Der Treibriemen hing locker neben der Achse. Entlang dem Mühlbach lagen die gleichmäßigen Stämme, akkurat aufgeschichtet. Nur der Stamm, der abends herabgestürzt war, als Albert Horrenried noch mal übers Gelände ging, lag schräg über den Schienen und störte das ordentliche Bild. Der Laufkran stand still. Jenseits der Steinach ging das Betonsträßchen weiter und führte schnurgerade zwischen zwei steil ansteigenden Hängen wie durch eine Schlucht in den dichten Wald hinauf.
Ein junger Beamter störte Bienzle in seiner Betrachtung. Er hielt ihm eine durchsichtige Plastiktüte vor die Nase, in der eine Eisenstange lag, an der man selbst durch die milchige Plastikhülle hindurch Blut- und Haarspuren sehen konnte.
»Da«, sagte der junge Polizist und Stolz schwang in seiner Stimme mit, »das haben wir unter der Gattersäge gefunden. Könnte die Mordwaffe sein.«
Bienzle nickte. »Sofort nach Stuttgart ins Labor. Und dann brauchen wir Fingerabdrücke.«
»Von wem?«
»Vom Bruder des Toten, von seiner Freundin, von diesem Oberjäger Hajo Sowieso...«
»Hajo Schmied! Jawoll, wird sofort erledigt!« Die Wangen des jungen Beamten glühten vor Eifer.
»Ja sicher, wann denn sonst?«, brummte Bienzle.
Bechtle trat zu den beiden. Bienzle sagte zu ihm: »Wir müssen das ganze Haus durchsuchen.«
»Das auch noch«, stöhnte Bechtle. »Und? Was suchen wir?«
»Ein Testament.«
Aus der Halle kam ein schwerer Mann um die sechzig in Cordhosen und einem Lodenjanker. In der rechten Hand trug er eine abgewetzte Ledertasche. Er trat auf Bienzle zu. »Sie leiten die Ermittlungen?«
Bienzle nickte nur.
»Dr. Melchers. Ich bin der Arzt hier. Die Leiche von dem Horrenried geht jetzt in die Pathologie.«
»Und wo ist die?«
»Im Kreiskrankenhaus. Aber offenbar ist Ihr Spezialist aus Stuttgart, ein gewisser Dr. Kocher, schon auf dem Weg.« Was Dr. Melchers nicht besonders zu gefallen schien.
Bienzle knurrte: »Der hat mir grad no g’fehlt... Und was sagen Sie?«
»Ich gehe davon aus, daß der Herr Horrenried an der Kopfverletzung gestorben ist. Die Blutspuren an der Stange sind ja unübersehbar.«
Wieder nickte Bienzle nur.
»Ich hab ihn allerdings noch nicht genau untersuchen können«, sagte Dr. Melchers, »und ich bin ja auch kein Spezialist.«
»Können Sie vielleicht trotzdem etwas über den Todeszeitpunkt sagen?«
Der Arzt wiegte den Kopf hin und her. »Schwierig. Nach der Leichenstarre... obwohl, der hat ja in dem Sägemehl warm gelegen... Irgendwann in der Nacht. Ich würde sagen, aber wirklich mit allem Vorbehalt... also, eher vor als nach Mitternacht.«
»Da ist noch so eine Geschichte, die mir nicht aus dem Kopf geht«, sagte Bienzle. »Der Herr Horrenried hat möglicherweise letzte Nacht noch ein Testament gemacht.«
»Ja und?«
»In seinem Alter... Da denkt man eigentlich noch nicht ans Sterben.«
»Der Herr Horrenried hatte ein schweres Herzleiden, außerdem eine perforierte Aorta so dicht am Herzen, daß man sie nicht operieren konnte, und er hat sehr unvernünftig gelebt. Ich hab’s ihm erst kürzlich wieder gesagt: ›Wenn Sie nicht endlich vernünftiger leben wollen, sollten Sie wenigstens Ihr Testament machen.‹«
Mit jedem Wort, das der Arzt sagte, gefiel er Bienzle besser.
24
Nachdem Joe angerufen hatte, hatte Mascha Patrick in die Arme genommen, herumgewirbelt und mehrfach auf beide Wangen geküßt.
»Er ist frei«, hatte sie immer wieder gerufen, »er ist frei, wir haben es geschafft. Wir haben es geschafft!«
»Kann ich dann jetzt nach Hause?«
»Sobald Joe da ist.«
Joe Keller hatte die Badehalle durchquert und war ins Freie hinausgetreten. Um diese Jahreszeit waren die Liegewiesen leer, nur einige ältere Frauen und Männer machten ihre Freiübungen, nachdem sie aus dem kalten Mineralwasser gestiegen waren. Das taten sie auch im Winter bei Kältegraden und Schnee. Sie beachteten den jungen Mann in dem viel zu weiten Bademantel nicht.
Joe erreichte unbehelligt die steinerne Begrenzungsmauer, hinter der – etwa dreieinhalb Meter tiefer – ein schmaler Fußgänger- und Radfahrweg am Neckarufer entlang führte. Ohne Eile schlüpfte der junge Mann aus dem Bademantel, zog Schuhe und Strümpfe wieder an, schwang sich auf die Mauerkrone, kniete nieder und ließ sich auf der anderen Seite hinunter. Den letzten Meter mußte er springen.
Ein Fußgängersteg aus Holz führte auf die andere Neckarseite hinüber. Joe begann locker zu rennen, überquerte den weiten Platz,
Weitere Kostenlose Bücher