Erntemord
Restaurant am Wasser, wo sie auf Sportboote blickten, die sanft im Dock schaukelten, und wo die höchste Spitze des Hauses mit den sieben Giebeln gerade noch über der Baumlinie zu erkennen war.
Brad kippte kurz hintereinander zwei Glas Whiskey hinunter, bevor sie ihr Essen bestellten. Rowenna leistete ihm bei dem ersten Gesellschaft, und auch Jeremy stellte fest, dasssein Bier innerhalb weniger Sekunden leer getrunken war.
Jetzt, in einiger Entfernung von dem Maisfeld und mit ein paar Stunden zwischen sich und der furchtbaren Entdeckung, schien die Welt allmählich wieder normal zu werden.
Jeremy hatte viel gesehen. Er hatte einst gedacht, dass es niemals einen schlimmeren Anblick als den der ertrunkenen Kinder geben könnte. Doch der heutige Tag hatte ihn eines Besseren belehrt.
Oder zumindest gab es jetzt zwei Bilder, die das Gruselkabinett in seinem Kopf füllten.
Als die Kellnerin den dritten Whiskey innerhalb von zehn Minuten brachte, legte Rowenna ihre Hand sachte auf Brads Arm. „Wir sollten dankbar sein, dass es nicht Mary ist“, sagte sie weich.
Er trank, und seine Hand zitterte, als er das Glas absetzte. „Die Sache ist die“, sagte er mit einer Stimme, die ganz heiser war vor Emotionen. „Die Sache ist die, dass da draußen ein irrer Killer herumläuft. Und nun ist auch Mary da draußen.“
„So dürfen Sie nicht denken, Brad“, sagte Rowenna und sah Jeremy an.
Er fragte sich, wie er sich jemals von ihr hatte fernhalten können. Das Mitgefühl in ihren bernsteinfarbenen Augen, wenn sie Brad anschaute, war bemerkenswert.
Doch die Art, wie sie ihn ansah …
Sie sah aus, als ob sie etwas sagen wollte, sich aber zurückhielt, weil sie sicher war, dass er es nicht gutheißen würde.
Er legte fragend den Kopf auf die Seite.
Sie blickte wieder zu Brad. „Ich habe … ich habe das Ge fühl, dass Mary lebt“, sagte sie.
Brad versuchte ein Lächeln, doch niemand hätte es wohl einen rechten Erfolg genannt. „Ach ja? Nun, ich hoffe, Sie haben recht. Ich dachte das auch, aber jetzt …“ Er schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, dass er nun nicht mehr wusste, was er denken sollte.
Ihre Miene zeigte deutlich, dass sie noch immer überlegte, was und wie viel sie sagen sollte. „Ich weiß, dass es lächerlich klingt, aber Sie können auch mit Joe Brentwood darüber reden. Ich habe manchmal … ein Gespür für Dinge. Und ich spüre, dass Mary lebt.“
Jeremy konnte nicht glauben, was er da hörte. Sie glaubte tatsächlich an all diesen übernatürlichen Schwachsinn. Fast hätte er etwas gesagt, doch er besann sich rechtzeitig.
Brad rang sich diesmal ein aufrichtiges Lächeln ab und prostete ihr zu. „Ihr Wort in Gottes Ohr“, sagte er und drückte ihre Hand. Er setzte sich aufrechter hin und gab ihr die Hand. „Wir wurden einander ja noch gar nicht offiziell vorgestellt. Ich bin Brad Johnstone.“
„Rowenna Cavanaugh“, gab sie zurück und schüttelte ihm die Hand.
„Und wo kommen Sie her?“, fragte er.
„Direkt hier aus Salem. Ich bin eine Einheimische“, erwiderte sie.
Brad schaffte sogar ein kleines, aber aufrichtiges Lachen, als er ihr sagte, dass sie gar keinen Akzent hätte. Sie gab zurück, dass er auch nicht gerade wie ein Südstaatler klänge. Brad erzählte ihr, dass er aus Jacksonville stamme und sie nie glauben solle, dass Florida angeblich nur aus Durchreisenden und Zugezogenen bestehe, denn seine Familie wohne schon seit dem frühen 19. Jahrhundert in der Gegend.
Es war gut, Brad wieder in einer normalen Konversation zu erleben, fand Jeremy, aber zugleich konnte er sich einer gewissen Anspannung nicht erwehren. Als ob er darauf wartete, dass eine Bombe einschlug.
Außer dass die Bombe bereits eingeschlagen hatte, in Form einer Leiche in einem Maisfeld.
Er lehnte sich im Stuhl zurück und nippte an seinem zweiten Bier. Die Suppe kam – sie hatten alle die berühmte New England Clam Chowder bestellt – und direkt danach folgte der Fisch.
In wortlosem Einverständnis hatten sie sich alle für Fisch entschieden. Weißes lockeres Fleisch, das nichts ähnelte, das einmal ein Säugetier gewesen war.
Brad und Rowenna trugen am meisten zum Gespräch bei, sprachen über dieses und jenes, wobei sie die örtliche Geschichte, Halloween, Mary oder die Leiche im Maisfeld sorgfältig vermieden. Sie hatten ihr Essen fast beendet, als Jeremy aufsah und Joe Brentwood in der Tür stehen sah.
Er sieht alt aus, dachte Jeremy, als ob er im Laufe des Tages um zehn Jahre
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