Ernten und Sterben (German Edition)
Aufforderung, dass wir die Auseinandersetzung suchen sollen.«
Anonymous hatte das Jagdfieber erfasst. Er hatte sich in einem Hochsitz postiert, der der Försterei vorgelagert war und freien Blick auf die Felder und die Landstraße gewährte. Von hier aus hatte er alles im Blick und könnte jeden mit seinem Schweizer Sturmgewehr erledigen, der sich der Försterei näherte.
Doch eigentlich stand ihm der Sinn nach Nahkampf, nach dem Geruch von Blut und Angstschweiß. Seinen Gegnern wollte er das Bajonett an die Kehle setzen, sie ausbluten lassen und dann an die Wildschweine verfüttern, die er in einem Gehege stets hungrig hielt.
In seinem Internetblog konnten Gleichgesinnte eine unüberschaubare Menge getöteter Tiere sehen, die er auf dem Gewissen hatte. Hier wurden Fragen des Nahkampfs genauso eiskalt diskutiert wie die Fähigkeit, einen Menschen aus tausend Metern Entfernung zu erschießen. Am liebsten lichtete er sich selbst mit seinem Umhang und der Guy-Fawkes-Maske ab. In der Linken riss er sein Messer in die Höhe, und in der rechten Hand hatte er den Kopf des Opfers als Trophäe. Lässig hielt er die tierischen Überreste an den Haaren fest. Darunter stand immer der Satz: »I am a very dangerous man.«
Niemandem war zum Reden zumute. Albertine strahlte eine natürliche Autorität aus, deshalb gab sie das knappe Kommando zum Ausschwärmen. Hubertus sollte Friedhelm ausfindig machen, denn niemand ging davon aus, dass der Killer im Keller des Forsthauses gleich mehrere Gefangene hielt. Sicherlich hatte er schon alles vorbereitet, um Albertine zu überwältigen und dann zu quälen.
Clementine hatte sich überreden lassen, sie zu begleiten und sich um das Auto zu kümmern. Außerdem setzte sie pünktlich zur verabredeten Zeit Kurznachrichten an Müller Zwo ab. Im Gleichschritt gingen sie zu dritt über den Forstweg wie die Piloten in »Top Gun – Sie fürchten weder Tod noch Teufel«. Wobei Albertine noch entschlossener wirkte als der Milchbubi Tom Cruise. Es fehlte eigentlich nur noch der patriotische Soundtrack von Harold Faltermeyer. Knapp zweihundert Meter vor dem Forsthaus schwärmten die drei aus wie ein Jagdgeschwader. Egon-Erwin verschwand rechts im Unterholz, während Hubertus links einem schmalen Pfad folgte.
Ich muss lebensmüde sein, dachte Albertine, als der Kreisjägermeister in vollem Ornat vor ihr auftauchte. Dabei präsentierte er alle Schattierungen der Farbe Grün. Unter der dunkelgrünen Försterjacke im zeitlosen Jankerl-Look trug er ein hellgrünes Hemd, das von einer fast erdig braunen Krawatte zusammengehalten wurde. Die Kniebundhosen korrespondierten mit den dicken wollenen Strümpfen, die in Haferlschuhen endeten.
»Wer sind Sie? Der Bruder von Mel Gibson?«, fragte Albertine, als sie direkt vor ihm stand.
»Das höre ich öfters und nehme es als Kompliment. Obwohl ich ja finde, dass dieser Hollywood-Epigone ein Versager ist.« Horst Wild redete mit einer seltsam undefinierbaren Fistelstimme. »Darf ich Sie auf einen Tee in meine bescheidene Behausung einladen?« Er deutete eine Verbeugung an.
»Ja gerne. Vielen Dank.« Albertine folgte dem Waidmann in das Forsthaus. Ihr wurde ein Platz in einem Ohrensessel angeboten, und der Kessel mit dem Wasser klapperte schon vor sich hin.
Der überlässt auch nichts dem Zufall, dachte Albertine.
Egon-Erwin hatte genau beobachtet, wie Albertine dem Kreisjagdmeister ins Forsthaus gefolgt war, und er hatte alles ausgiebig fotografiert. Gebückt rannte er nun zum Haus und legte sich neben dem Fenster zum Wohnzimmer auf die Lauer. Die Lichtverhältnisse waren schwierig, weil es von außen im Haus wie abgedunkelt wirkte. Leise fluchend drückte Egon-Erwin sich an der Wand entlang in Richtung Haustür.
Hubertus stapfte deutlich sorgloser durch den Wald. Die Winterrübenmiete hatte er nicht entdeckt und auch die erstickten Geräusche nicht gehört, die aus der Erde nach oben drangen. Er ging weiter in den Wald hinein und trat auf eine Lage Äste, die im Weg lagen und unter seiner Last zerbrachen. Hubertus fiel in eine vier Meter tiefe Grube und verstauchte sich den linken Arm und den rechten Fuß. Die Schmerzen waren unerträglich, und deshalb beschloss Hubertus erst einmal, dem wohligen Gefühl der Ohnmacht nachzugeben.
Friedhelm begrub langsam, aber sicher die Hoffnung, dass ihn bald jemand in dem Erdloch finden würde. Er hatte einmal gehört, nach fünf Tagen müsse man mit dem Schlimmsten rechnen. Nämlich mit dem Tod durch Verdursten.
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