Eros
ab.
»Laß stecken.«
»Was haste denn? Bin ich jetzt der Klassenfeind?«
Birgit gibt keine Antwort, aber die Vernunft als radikales Zeug zu
bezeichnen, eine solche Infantilität setzt ihr ernsthaft zu, beleidigt sie
gradhinaus.
Während des Sommers haben sich die Schwestern eigene
Wohnungen gemietet und den Kontakt zueinander stark eingeschränkt. Birgit fällt
Rolfs zunehmende Lethargie den politischen Entwicklungen gegenüber ebenso
zunehmend auf die Nerven. Er verlangt immer öfter – ohne Diskurs – einfach nur
nach Befriedigung, büßt an Attraktivität ein, und Birgit beschließt, Sofie im
Kindergarten zu besuchen.
Wie es ihr gehe, fragt sie, während Kinder um die beiden
herumrennen, ob sie Zeitung gelesen habe?
»Zeitung? Weswegen?«
Birgit zögert, ist knapp davor, ihr von der Suchanzeige zu erzählen,
schreckt aber zurück, als die Ausbilderin zwischen die beiden tritt und mit
erbosten Machtworten um sich wirft. Tragisches ist vorgefallen.
Der kleine Emil hockt auf dem Klo und kotzt. Vielleicht, wenn Emil
nicht das Brötchen mit dem alten Hackepeter gegessen hätte … Aber er hat und
kotzt. Sofie läuft. Die Ausbilderin fragt sehr sarkastisch, ob sie auch bloß
bei nichts Wichtigem gestört hätte. Birgit, ebenso sarkastisch: »Gibt es auf
Erden was Wichtigeres als ein reiherndes Kleinkind?«
Die Ausbilderin, gereizt, setzt noch eins drauf. »Nein, aber um das
zu lernen, werden Sie noch ein paar Jahre brauchen.«
»Die Jahre mögen mir lang werden.«
»Da sei Gott vor.«
Währenddessen wischt Sofie dem kleinen Emil den Mund ab und weint.
Klein Emil fühlt sich schuldig und weint auch.
Birgit geht zu einem Abfallkorb, wirft die mitgebrachte Zeitung
beinahe hinein. Beinahe. Steckt sie zurück in ihre Handtasche. Warum sie nicht
tut, was sie tun könnte, Sofie die Zeitung geben, ihr die Entscheidung
überlassen; ob Birgit fürsorglich ist oder neidisch – sie weiß es selbst nicht,
wirklich nicht.
September 51
Im Spätsommer 51 beschloss ich, nicht länger nach Sofie zu
suchen. Stattdessen suchte ich nach ihrer damaligen Freundin, Birgit. Es war
wenig wahrscheinlich, anzunehmen, daß sie etwas wußte oder gar noch Kontakt zu
Sofie pflegte, aber da sonst nichts geholfen hatte, legte ich meine Hoffnung
auf die wenigen Spuren, die blieben.
»Sie hieß Birgit Irgendwas, wohnte auf Nummer zehn in der
Hormayrstraße. Bekommt ihren Nachnamen heraus, benutzt ein altes
Einwohnerverzeichnis. Worauf wartet ihr?«
Meine Rechercheure, allen voran Sylvia, gaben sich enorm viel Mühe,
obgleich ihnen für den Fall des Erfolgs ja Arbeitslosigkeit drohte. Das war mir
nicht bewußt gewesen, und, glauben Sie mir, ich hatte die Bande lieb gewonnen,
nie hätte ich einen von ihnen auf die Straße gesetzt. Aber der fehlende Erfolg
machte mich rasend, und paranoid war ich vorher schon. Drum kam es öfter vor,
daß ich diesen jungen Leuten drohte, sie gar beschimpfte und verdächtigte,
nicht gewissenhaft genug zu arbeiten. Geld verändert den Charakter, das ist
eine Binsenweisheit, manchmal wahr, manchmal nicht, in meinem Fall traf der
Spruch zu, und ich schäme mich deswegen. Aber Tatsache war auch, daß ich Angst
haben mußte, daß es Hunderte halbseidener Typen gab, die etwas von mir wollten. Alle wollten
angeblich mein Bestes, womit die meisten mein Geld meinten. Der Aufstieg vom
taubstummen Kriegsirren zum Millionär brachte mir viele Unannehmlichkeiten ein,
als lästig vor allem dadurch empfunden, daß mir an dem Geld ja wenig lag, nur
an den Möglichkeiten, die es bot.
Wäre Sofie nicht gewesen, oder vielmehr die leise Hoffnung auf
Sofie, ich hätte mich mit Keferloher anders arrangiert, hätte ihn den Betrieb
weiter ausplündern lassen, solange mir irgendwo eine nette Bude mit zwei warmen
Mahlzeiten und viel Ruhe bis ans Lebensende gegönnt worden wäre. Das werden Sie
mir sicher nicht glauben, aber es ist die Wahrheit. Glaube ich. Man kann sich
der Wahrheit nach so langer Zeit nicht mehr sicher sein, leider.
Ein paar Tage später brachte mir Sylvia Informationen. Jene Birgit
hieß mit Nachnamen Kramer, ihre Eltern hatten sich im März 45 als ausgebombt
gemeldet und bei der Behörde angegeben, zu Verwandten nach Wuppertal ziehen zu
wollen. Auf dem Wuppertaler Einwohnermeldeamt fand sich eine Birgit Kramer im
richtigen Alter, die an der Uni eingetragen war und Jura studierte. Ihre Eltern
hießen Klaus und ich weiß nicht mehr, aber in den amtlichen Papieren war von
einer Adoption die Rede. Götter!
Weitere Kostenlose Bücher