Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Gestalt, die unter einer Decke auf dem Sofa lag. Ihn überkam ein Gefühl der Erleichterung. Sie schlief. Das war die Erklärung. Er war schon in das Zimmer geschlichen, als er bemerkte, daß die Füße und Beine, die über die Armlehne des Sofas hingen, die eines Mannes waren.
»Greg?« Er ging näher heran. Die Luft im Zimmer war abgestanden und ein wenig unangenehm. Es war sehr heiß. Er warf einen Blick auf den Ofen. Er glühte vor Hitze. »Greg?« Er zog die Decke vom Gesicht des Mannes und schrie kurz auf. Das Fleisch in Bills Gesicht war verfärbt und aufgedunsen; seine Augen, unter schlaffen Lidern halb geöffnet, waren glasig und trüb. Speichel war in einem kleinen Bach aus dem Mundwinkel auf das Kissen gelaufen, wo er inmitten von schwarz verkrustetem Blut zu einer klebrigen Substanz getrocknet war. Er war tot.
Patrick bäumte sich auf, wandte sich von der Leiche ab und übergab sich. »O mein Gott! O mein Gott œ O mein Gott œ O mein Gott!« Er beugte sich vor und übergab sich erneut. Als er in den Taschen seiner Jeans nach etwas suchte, mit dem er sich den Mund abwischen konnte, stießen seine Finger auf den öligen Lappen, den er früher am Tag benutzt hatte, um den Ölmeßstab des Volvos abzuwischen, als er für seinen Vater den Ölstand im Motor überprüft hatte. Er hob ihn gedankenlos an sein Gesicht, um sich Mund und Augen damit abzuwischen und hinterließ dabei dunkle, verschmierte Ölspuren auf seinen Wangen. Die Augen auf die Leiche gerichtet, ging er rückwärts zur Tür. Wo war Kate? Er erreichte den Korridor, schlug die Tür zu und lehnte sich gegen sie. Trotz der Hitze im Haus war ihm furchtbar kalt, und seine Beine zitterten. Er setzte sich auf die unterste Stufe der Treppe und holte tief Luft. Dann wandte er sich halb um und verdrehte den Kopf, so daß er hinauf in die Dunkelheit am Ende der Treppe blicken konnte.
»Kate?« Seine Stimme war heiser, kaum ein Flüstern. »Kate, sind Sie da oben?«
Er erhob sich und ging langsam die Treppe hinauf. Über ihm schlug eine Tür zu. »Kate?« Seine Stimme zitterte. »Kate, ich bin es, Patrick.« Hier oben konnte er den Wind deutlicher hören. Er heulte um die Fenster, und dahinter toste das Meer, dessen Wellen sich in einem tiefen, unterschwelligen Rhythmus brachen. Er erreichte den Treppenabsatz. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit, während er sich an der Wand entlangtastete, bis er einen Lichtschalter fand und ihn anknipste. Beide Schlafzimmertüren standen weit offen. Im Gegensatz zum Erdgeschoß war die Luft hier oben eiskalt, obwohl, wie er unwillkürlich dachte, Hitze doch eigentlich nach oben steigt. Aber vielleicht war irgendwo ein Fenster auf.
»Kate?« Er ging auf Zehenspitzen zu ihrer Schlafzimmertür. Dann blieb er stehen. Nachdem das Entsetzen über das, was er unten gesehen hatte, etwas nachließ, begann sein Gehirn wieder zu arbeiten, und ihm dämmerte, was das, was er unten gesehen hatte, bedeutete. Kein Sturz konnte solche Verletzungen verursacht haben, wie er sie auf Bills Kopf und Gesicht gesehen hatte. Bill war erschlagen, ermordet worden, und der Mörder lief in der Dunkelheit herum, war jetzt vielleicht hier oben. Ihm fiel das Geräusch der zuschlagenden Tür wieder ein. Aber beide Türen waren offen. Er schluckte, und erneut stieg ihm eine große Übelkeit die Kehle hoch. œ Kate. Was war mit Kate geschehen?
Er holte tief Luft, stieß dann die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf und starrte hinein. Das Licht war an. Das Zimmer war leer. Er sah sich um. Seine Hand umklammerte den Türgriff so fest, daß die Knöchel seiner Finger knackten. Bis auf das Bett, von dem die Decken weggenommen worden waren, schien das Zimmer unberührt zu sein. Friedlich. Es war durchdrungen vom Duft eines unidentifizierbaren Parfüms œ allerdings nicht dem von Kate. Er schnupperte verblüfft. Es war angenehm, wohlriechend, aber es beunruhigte ihn. Er spürte plötzlich einen eiskalten Schauer, der ihm über den Nacken lief. Die Sache gefiel ihm nicht.
Er wandte sich von der Tür ab und ging über den Gang zum anderen Zimmer. Nachdem er das Licht angeschaltet hatte, sah er, daß es leer war. Nur ein paar Koffer und Pappkartons waren neben dem Fenster am anderen Ende des Zimmers auf dem Boden gestapelt. Keine Spur von Kate. Außerdem waren die Fenster in beiden Zimmern fest verschlossen. Was für eine Tür hatte er also zuschlagen gehört, und woher kam die Kälte? Ihn schauderte.
Die Küche. Er hatte nicht in der Küche nachgesehen.
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