Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
die rasch schwächer wurde. Nichts. Er sah den Weg hoch, nach links, nach rechts, und er hatte plötzlich einen Moment lang das Gefühl völligen Entsetzens. In welcher Richtung lag die Farm? Er schloß die Augen. Ruhig bleiben. Suche einen Anhaltspunkt. Er kannte diesen Weg wie seine Westentasche; er war immer stolz darauf gewesen, daß er jeden beliebigen Baum im Wald erkennen konnte.
Er leuchtete wieder mit der Lampe umher, konzentrierte sich diesmal auf die Vegetation. Aber im Dunkeln sah alles so anders aus, so unheimlich. Seine Augen brannten verdächtig, als würde er gleich weinen müssen. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so verlassen und verloren gefühlt. Aber da entdeckte er eine einzeln stehende Kiefer. Es war ein Baum, den sie alle gut kannten, ein Baum, der die anderen im Wald um Schulterhöhe überragte, eine uralte schottische Kiefer, deren unverwechselbare Umrisse außer Reichweite seiner Lampe gewesen war. Mit einem verlegenen Grinsen ging er auf sie zu. Er wußte jetzt, daß er sich nur zehn Minuten vom Farmhaus befand.
Als er um die Scheune herumkam, fiel sein Blick auf jemanden, der im Windschatten der Wand kauerte, und er blieb abrupt stehen. Wer immer es war, er bewegte sich nicht. Er sah zum Haus. Der Anblick des aus den Fenstern des Erdgeschosses fallenden Lichts beruhigte ihn. Dann sah er wieder auf die Gestalt. Seine Fahrradlampe war zwar kaum noch stark genug, um den Weg vor seinen Füßen zu erleuchten, dennoch hielt er sie argwöhnisch in Richtung der Scheunenwand.
»Allie?« Seine Stimme klang heiser. »Allie, bist du das?« Er machte ein paar Schritte näher heran. »Allie?« Er rannte auf sie zu. »Allie, was hast du? Was machst du hier draußen? Fehlt dir was?« Er packte seine Schwester am Arm und riß sie hoch.
Sie starrte ihn an. Ihre Augen waren hart und ausdruckslos. Über eine Seite ihres Gesichts, von der Schläfe bis zur Kinnlade, lief ein tiefer Kratzer, und als er sie an sich zog, sah er, daß ihre Hände aufgescheuert waren und bluteten.
»Komm rein, Allie.« Seine Stimme klang dringlich. »Komm rein. Schnell.« Er warf einen Blick über seine Schulter. Dort draußen im Wald war ein Mörder, und wie es aussah, hatte er auch seine Schwester angegriffen.
Er öffnete die Haustür und schleifte Alison hinein. »Ma!« Er schaffte sie ins Wohnzimmer. »Ma!«
Diana rannte auf sie zu. »Mein Gott! Alison! Was ist mit ihr passiert?«
Patrick schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen, und sah zu, wie Diana Alison zum Sessel am Feuer führte und neben ihr niederkniete, um ihr die Hände zu reiben.
Hinter ihm war sein Vater vom Küchentisch aufgestanden, wo er während der letzten vierzig Minuten ausdruckslos auf das Kreuzworträtsel der Times gestarrt hatte. Nach einem ersten entsetzten Blick auf seine Tochter wandte er sich seinem Sohn zu. Der Ausdruck auf Patricks Gesicht erschreckte ihn. Er legte den Arm um die Schultern des Jungen, führte ihn in die Küche und setzte ihn an das Kopfende des Tisches. Ohne ein Wort griff er in den Schrank und holte eine Flasche Brandy hervor. Er goß etwas davon in ein Glas und drückte es seinem Sohn in die Hand. »Trink erst mal. Und dann erzähl.«
Patrick nippte an dem Glas. Seine Augen begannen, sich mit Tränen zu füllen.
Die Hand seines Vaters lag auf seiner Schulter. »Schon gut junge. Schon gut. Laß dir Zeit.« Roger warf über Patricks Kopf einen Blick hinüber zu seiner Frau. Sie wickelte gerade Alisons Beine in eine Decke. Das Mädchen hatte weder gesprochen noch sich bewegt, seit sie sich gesetzt hatte.
»Gib ihr ein bißchen was von dem Brandy, Di«, rief Roger. Er schob die Flasche über den Tisch.
Diana sah ihn an. Ihr Gesicht war bleich, als sie von Alison wegging. Sie blieb einen Moment lang vor Patrick stehen und starrte ihn an. »Was ist ihnen denn nur zugestoßen, Roger? Was in Gottes Namen ist passiert?«
Patrick nahm noch einen Schluck aus seinem Glas. Seine Hände hatten sich so fest um das Glas geklammert, daß man die Knöchel sehen konnte, die weiß durch die aufgesprungene Haut schimmerten. Zitternd holte er tief Luft und sah seinen Vater an.
»Bill Norcross ist tot. Er liegt im Cottage. Ermordet.« Seine Augen füllten sich wieder mit Tränen, und dieses Mal gab er sich keine Mühe, sie zu verbergen. »Sein Schädel ist eingeschlagen, und sein Gesicht…« Er trank noch einen Schluck. Das Glas in seinen Händen zitterte so sehr, daß seine Eltern hören konnten, wie es an seine Zähne
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