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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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sie sich bei diesen Worten fühlte. Sie hatte gewußt, daß er nach London zurückfuhr, und doch hatte sie irgendwie damit gerechnet, daß er nächstes Wochenende wieder hier sein würde.
    »Noch einen Scotch?« Er hatte aufmerksam ihr Gesicht beobachtet und etwas von der Einsamkeit gesehen, die sich für einen Moment in ihren Augen gezeigt hatte.
    Sie nickte und hielt ihm ihr Glas hin. »Dann können wir auf Lord Byron anstoßen. Bis ich dich wiedersehe, dürfte er, mit ein bißchen Glück, schon mehrere Kapitel umfassen.«
    Nachdem sie Bill am Bahnhof in Colchester abgesetzt hatte, nutzte sie die Gelegenheit und fuhr weiter in die Innenstadt, neugierig auf den Ort, der in den kommenden Monaten das nächstgelegene größere Zentrum für sie sein würde. Pevsner hatte sich in dem Buch über die Stadt, das sie zuvor schnell noch in der London Library konsultiert hatte, zu lyrischen Höhen emporgeschwungen, aber mittlerweile wetteiferten dort, wo sich das meiste des von ihm Beschriebenen befunden haben mußte, in rotem Backstein gehaltene Einkaufszentren aus den Sechzigern mit Glas und Beton aus den Achtzigern. Betrübt richtete sie ihre Aufmerksamkeit schließlich auf das Burgmuseum.
    Das riesige Gebäude lag bereits im Schatten der späten Nachmittagssonne, als sie über die Brücke und dann durch die große Tür ging, um eine Eintrittskarte zu kaufen. Das Gebäude war seltsam leer. In der Entfernung konnte sie die körperlose, dramatische Stimme zu einem Endlos-Video hören. Die Toneffekte und die Eindringlichkeit der Erzählung klangen inmitten der Glasvitrinen unter der hohen Balkendecke der Burg seltsam deplaziert. Sie ging zwischen den Ausstellungsstücken im Parterre hindurch und betrachtete Artefakte aus dem Bronze- und dem Eisenzeitalter, wobei sie sich langsam dem Geräusch näherte.
    Einige Minuten lang blieb sie stehen und sah sich das Video an, das über die Römer in Colchester berichtete, dann wandte sie sich ab und ging die Stufen hinauf. Oben gab es Exponate aus der Römerzeit, lebensgroße Modelle, farbenprächtige Panoramabilder an den Wänden sowie eine weitere Videovorführung, dieses Mal über den Aufstand Boadiceas und die Plünderung der Stadt.
    Arme Boadicea. Kate schlenderte langsam herum und studierte die Ausstellungsstücke, setzte nach und nach ihr Leben zusammen: Frau von Prasutagus; ihre Kinder; der politische Hintergrund im England des ersten Jahrhunderts; der Tod ihres Ehemanns; die Vergewaltigung ihrer Töchter und die Demütigung, als sie von einem Römer ausgepeitscht wurde. œ Nach Jahren der Enttäuschung und Unzufriedenheit in einem Land unter fremder Herrschaft die letzte Beleidigung, die jenen Aufstand auslöste, der die Besetzung Britanniens durch die Römer fast beendet hätte. Was für eine Geschichte!
    Plötzlich betrachtete Kate das Video mit gespannter Aufmerksamkeit. Was für eine Biographie sich daraus machen ließe; was für ein Buch, wenn der Byron fertig war… Das brennende Colchester, der Raubzug von Boadiceas Truppen quer durch Essex und Hertfordshire, auf dem Weg nach London. Dann die letzten Stunden, in denen sie erkannte, daß alles fehlgeschlagen war, und sich das Leben nahm. Colchester stand im Mittelpunkt von allem œ eine Stadt, in der die Flammen so heiß emporgelodert waren, daß in ihren Fundamenten fast zweitausend Jahre danach noch immer eine schwarze Schicht deutlich sichtbar war, die vom Tod kündete.
    Sie sah sich das Video ein weiteres Mal an, allein in der abgedunkelten Kabine. œ Sie sah die riesigen Umrisse der Krieger, hörte ihre Rufe und Schreie und war sich plötzlich fast schmerzhaft ihrer Anwesenheit in diesen Gewölben tief unter der Burg bewußt, die offensichtlich die einzigen Überreste des Claudius-Tempels waren œ des Tempels, den Boadicea zusammen mit dem Großteil der Stadtbewohner, die sich darin befanden, bis auf die Grundmauern niedergebrannt hatte.
    Sie kannte dieses Gefühl: diese angespannte, prickelnde, atemlose Erregung, wenn die Ideen sich in ihrem Kopf drängten, und sie fluchte leise. Sie hatte es schon früher gehabt, nachdem sie mit Jane fertig war; nicht, bevor sie mit Jane fertig war. Dies Gefühl jetzt zu haben, während sie noch mit dem Herrn der Finsternis beschäftigt war, bedeutete möglicherweise, daß sie sich monate-, wenn nicht jahrelang quälen würde: Ein anderer konnte die Geschichte vor ihr aufgreifen; sie würde ihrem Verleger vielleicht nicht gefallen; sie konnte in ihr Wurzeln schlagen, sich

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