Erste Male
sie sich beim Einkaufen offenbar um mindestens vier Kleidergrößen verschätzt.
Ich musste auf dem Weg ins Klassenzimmer an ihnen vorbei und versuchte den Blick abzuwenden. Als ich bloß noch einen Meter weg war, nahm Marcus eine Hand von ihrem ausladenden, elastisch umhüllten Hintern und winkte mir zu. Seine Augen ruhten auf mir, aber seine Lippen blieben die ganze Zeit an ihren kleben.
Als er zwei Minuten später an meinem Tisch vorbeiging, existierte ich nicht mehr.
Das muss aufhören.
SECHZEHNTER
Vier Uhr zwanzig morgens, und wie üblich war ich hellwach. Draußen war es echt warm. Beinahe zehn Grad. Mir kam in den Sinn, wie dämlich es war, hundertprozentig wach in meinem Zimmer festzusitzen und darauf zu warten, dass die Sonne aufging und mein Tag begann. Wieso kann ich meinen Tag nicht anfangen lassen, wenn es draußen noch dunkel ist?
Also hörte ich auf die Botschaft meiner zuckenden Muskeln: Gehen wir laufen. Na gut. Dad würde mir garantiertnicht folgen. Ich zog mir Shorts und ein T-Shirt über, schnürte meine Laufschuhe. Dann schlich ich in die Küche und schrieb einen Zettel: KONNTE NICHT MEHR SCHLAFEN. BIN LAUFEN. 4 UHR FRÜH. NICHT BÖSE SEIN. JESS
Auf Zehenspitzen schlich ich aus der Hintertür und dehnte mich auf der Terrasse. Die Luft roch nach nassem Gras. Grillen zirpten. Blätter raschelten im Wind. Der Mond war noch nicht ganz voll, ich musste mich also nicht vor Verrückten fürchten.
Ich lief los.
Im Dunkeln war alles anders. Unser Viertel mit seinen Einfamilienhäusern wirkte bei Tag so vorhersehbar und sicher. Nachts aber waren dieselben Häuser rätselhaft und geheimnisvoll. Vor allem die, bei denen in einem Fenster noch Licht brannte. Ich hatte so viele Nächte allein wach gelegen, mir aber nie ausgemalt, wie viele andere Menschen sich ebenfalls schlaflos im Bett wälzten.
Nach ich weiß nicht wie vielen Kilometern hörte ich auf zu denken. Ich weiß, das klingt jetzt ein bisschen nach Selbstfindungsbuch, aber plötzlich war alles im Takt: das Ein- und Ausatmen, der fließende Fall meiner Füße, der Rhythmus des Laufens, die Farbtupfer, die vorbeiflackerten. Es ging so mühelos, dass ich nach meiner üblichen Runde nicht aufhörte, sondern einfach weiterlief. Als hätte mein Körper die Entscheidung getroffen, bevor mein Hirn Einspruch erheben konnte.
Als ich wieder zu Hause war, stieg die Sonne ganz rosa und orange über den Horizont. Es war ungefähr Viertel vor sechs. Ich war etwas mehr als eine Stunde gelaufen und kein bisschen erschöpft. Und noch besser: Zum ersten Mal seit langer Zeit war es in meinem Kopf ruhig. Über eine Stundehatte ich weder an die Prom noch an Paul Parlipiano noch an meine Periode noch an sonst was gedacht.
Nicht mal an Marcus Flutie.
Mein Herz schlug schnell, ich fühlte mich ungeheuer lebendig. Erstaunlich. Ich wünschte, das Leben könnte immer so sein, oder ich könnte es jedenfalls so werden lassen, wann immer ich wollte. Wenn ich endlich mal aufhörte, mir Sorgen zu machen, fühlte ich mich tatsächlich gut.
Ich war so voller Optimismus, dass ich auf der Stelle einen guten Vorsatz fasste: Ich will normal werden. Ich werde akzeptieren, dass Hope nicht mehr da ist. Ich werde keine Angst haben, mich mit Hy anzufreunden. Ich werde mich mit der Tatsache abfinden, dass Paul Parlipiano mich nicht entjungfern wird. Ich werde mir nicht mehr einreden, dass Marcus Flutie mich auf die schiefe Bahn bringen will. Ich will normal werden.
Und der erste logische Schritt, eine normale Highschool-Schülerin zu werden?
Scotty fragen, ob er mit mir zur Hochzeit meiner Schwester geht.
Das lag auf der Hand. Scotty ist normal. Scotty amüsiert sich. Scotty kann nachts schlafen. Ich gehe schon zu lange auf eine staatliche Highschool, um Hy ihre Revolutionstheorien abzukaufen, aber vielleicht hat sie zum Teil Recht. Wenn ich mehr Zeit mit ihm verbringe, könnte seine positive Einstellung auf mich abfärben. Vielleicht kann ich normal werden – oder sogar beliebt –, ohne mich dabei zu verleugnen. Ich werde es nie erfahren, wenn ich es nicht probiere.
Damit ich es mir nicht wieder anders überlegte, radelte ich sofort zu Scotty, um ihn persönlich zu fragen, nachdem ich den Schweiß meines kathartischen Laufes abgeduscht hatte.
Als ich dort ankam, stand ein unbekanntes Auto in der Einfahrt. Bis mir klar wurde, wem es gehörte, und ich den dringenden Impuls verspürte, wieder aufs Rad zu springen und nach Hause zu fahren, war es schon zu spät. Scotty
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