Erwählte der Ewigkeit (German Edition)
ganz unten im Stapel. Tavia starrte ihn an und spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich …
Es war ihr Entführer.
Der geistesgestörte Attentäter – der Mann, bei dem ihre Instinkte sie warnten, dass er irgendwie mehr als nur ein Mensch war. Er stand hinter einem teuer wirkenden Sofa, die muskulösen Arme über die Lehne gelegt, sodass sie einen schützenden Bogen um die schlanken Schultern einer zierlichen blonden Frau und den kleinen Jungen von dem Geburtstagsfoto bildeten. Hier war er schon etwas älter, nicht mehr das flachshaarige, grinsende Kind, das eine riesige Schachtel mit Schleife hielt, sondern ein gut aussehender Teenager in einem Sweatshirt der Harvard-Universität und mit einem großspurigen Lächeln, das zu sagen schien, dass ihm die ganze Welt zu Füßen lag.
Die Frau war wunderschön. Ihr zartes, perfekt ovales Gesicht war so makellos wie die elfenbeinfarbene Seide an den Wänden, die sie umgaben, ihr langes Haar war goldblond, ihre großen veilchenblauen Augen gerahmt von dunklen Wimpern. Sie strahlte den jungen Mann an wie eine stolze Mutter, obwohl sie nur ein paar Jahre älter sein konnte als er.
Auch Tavias Entführer lächelte, sein breiter Mund kräuselte sich subtil, was ihn charmant und umwerfend zugleich aussehen ließ. Attraktiv beschrieb auch nicht annähernd sein schmales, kantiges Gesicht und sein entschlossenes eckiges Kinn.
Aber während sein Lächeln wie eine routinierte Pose wirkte, war sein Blick entwaffnend nackt. Ein Ausdruck von gequältem Verlangen glühte darin. Und es galt sichtlich der schönen jungen Frau, um die er so schützend den Arm gelegt hatte.
Tavia sah noch einmal die anderen Fotos durch. Auf den meisten davon war er zu sehen, wie er in edelstem Zwirn an wichtig wirkenden Geschäftstreffen teilnahm, umgeben von Reichtum, Privilegien und offenbar höchsten gesellschaftlichen Kreisen.
Mein Gott.
Wer immer er war – wozu immer er geworden war – , das war das Leben, aus dem er gekommen war.
Das war seine Familie.
Dieses Haus, in das er sie gebracht hatte, war einst sein Zuhause gewesen.
Chase erwachte von einem wilden Hämmern in seinem Kopf.
Mit einem kehligen Fauchen kam er zu sich, sein Blutdurst schlug seine scharfen Krallen in ihn, seit gestern Abend war er kaum schwächer geworden. Sein Schädel dröhnte, sein Mund war so trocken wie Watte, jeder Teil seines Körpers fühlte sich wund und erschöpft an. Er gierte nach seiner nächsten Dosis.
Ohne die Augen zu öffnen, richtete er sich vom Boden auf, wo er sich vor einigen Stunden hatte fallen lassen, geschwächt von der Erschöpfung und seinen Verletzungen, von dem verzweifelten Drang nach Nahrung. Doch den konnte er sich nicht leisten, beim nächsten Mal würde seine Sucht nur umso mehr fordern.
Er spürte, dass draußen die Morgendämmerung angebrochen war. Stunden waren vergangen, seit er mit der Frau aus dem Hotel hier angekommen war.
Tavia Fairchild.
Ihr Name kam ihm jetzt weniger wie der einer Fremden vor, sondern eher wie ein Rätsel, das gelöst werden musste. Ein Rätsel, das keinen Sinn für ihn ergab, das er aber nicht ignorieren konnte.
Darum hatte er sie hergebracht, in dieses Haus, in das zurückzukehren er niemals erwartet hatte.
Er hatte Zeit zum Nachdenken gebraucht, Zeit, um sie zu beobachten. Nachdem er sie aus ihrer bewachten Hotelsuite herausgeholt und wertvolle Zeit damit verloren hatte, auf der Suche nach einem Unterschlupf in Boston herumzufahren, hatte er sich schließlich damit abgefunden, dass es nur einen einzigen Ort gab, zu dem er jetzt gehen konnte. Seinen ehemaligen Dunklen Hafen, wo er das Familienoberhaupt gewesen war, nachdem sein älterer Bruder im Dienst der Agentur ums Leben gekommen war.
Chase hatte das Haus aufgegeben, als er vor anderthalb Jahren dem Orden beigetreten war, und war seither nicht mehr dort gewesen. Das Dutzend Verwandte, für die er damals verantwortlich gewesen war, die jungen Cousins, Freunde der Familie und entfernte Angehörige, waren seither in andere Dunkle Häfen der Region gezogen. Jetzt war sein ehemaliges Zuhause nur noch eine leere Gruft, in der nur noch die Erinnerungen an seine Sünden und sein Versagen der Vergangenheit lebten.
Die alte Villa im Bostoner Viertel Back Bay war der letzte Ort der Welt, wo er sein wollte, aber ihm fiel kein anderer Ort ein, der sicher genug für Tavia war und wo auch er untertauchen konnte.
Was die Behörden der Menschen anging, war sein einziger Wohnort das Anwesen des Ordens
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