Erzaehl mir ein Geheimnis
drängte sich an ihm vorbei in Richtung Bühne.
»Die anderen müssten gleich hier sein, Charles. Du musst noch das restliche Werkzeug wegräumen.«
Ich stand noch immer wie versteinert hinter meinem Vater, als sich seine Gestalt von einem Fels aus Macht wieder in einen bröckelnden Berg der Schande verwandelte. Alles, was von seiner Rebellion blieb, waren zwei geballte Fäuste.
Ich war erschüttert. Erschüttert, dass mein Vater, mein eigener unsichtbarer Dad, für mich eingestanden war. Es spielte keine Rolle, dass es nur für einen kurzen Moment gewesen war. Ich schwebte nach oben, an den Fenstern vorbei und in die Nacht hinaus, wie der weiße Vogel auf meinem Bild. Der Teil von mir, der in der Kirche zurückgeblieben war, hörte, wie mein Dad sein Werkzeug zusammensuchte und die Kirche durch den Hinterausgang verließ, während Mom zum tausendsten Mal ihr Drehbuch las.
»Mandy!«, blaffte meine Mutter. »Hörst du mir zu?«
»Was?«, flüsterte ich und kehrte mit einem Zittern in meinen Körper zurück.
»Sortiere die neuen Seiten für mich. Derweil mache ich alles auf der Bühne fertig.« Als ich zögerte, bellte sie: »Beweg dich! Die anderen werden gleich hier sein und es wäre nett, wenn ich etwas Hilfe bekommen könnte.«
Jawoll! Ich musste auf die Erde zurückkehren, bevor die Heiligen ins Himmelreich einzogen. In den Augen meiner Mutter waren wir alle Heilige oder Sünder. Ich hatte in der kurzen Begegnung von Sperma und Ei die Seiten gewechselt.
Und wie war das mit meiner Mutter? Sie haben dich die ganze Zeit belogen , hatte Dylan gesagt.
Wenn schwangere Mädchen Sünder sind, was sind dann Lügner?
29
Die Kirche würde in der Premierennacht wegen Essence Hannah, der aufstrebenden Schauspielerin, proppenvoll sein. Mom hatte es sich nicht nehmen lassen, jedem von Essence’ Rolle in Guys and Dolls oder ihrer Bewerbung am Cornish zu erzählen, geschweige denn, wie ihr Auftritt sie alle umhauen würde. Ich würde mir Backstage die Zuschauer ansehen und versuchen, ein weiteres Jahr nicht über die Nacht nachzudenken, in der Xanda gestorben war.
Während die anderen alle auf dem Weg zum Winterball waren, saß ich auf dem Sofa in der Eingangshalle der Bank und wartete auf meine Mutter, die mich abholen wollte. Auf dem Weg würde sie den Text in ihrem Kopf noch einmal durchgehen, falls sie in letzter Minute doch noch etwas ändern wollte. Auch mir ging etwas nicht aus dem Sinn. Das Gespräch, das ich am Morgen mit Kamran geführt hatte, wiederholte sich immer und immer wieder in meinem Kopf.
Ich war an diesem Morgen zu spät zum Englischunterricht gekommen, weil ich Magenkrämpfe hatte. An der Tür zum Klassenzimmer stieß ich beinahe mit Kamran zusammen.
»Miranda, du?«, hatte er gesagt, als hätten wir uns seit letztem Sommer nicht mehr gesehen. Als hätte er nicht versucht, mir ständig aus dem Weg zu gehen.
»Wir sollten reden«, sagte ich. »Bevor … na ja, bevor …« Ich berührte meinen Bauch. In der sechsundzwanzigsten Woche sah er schon aus, als ob er jeden Moment explodieren könnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich in der vierzigsten Woche aussehen würde.
Er spielte mit seinem Schlüsselanhänger. Seine Haare waren länger als letzten Sommer.
»Ich bin mir nicht sicher, worüber wir reden sollten.«
Die Stimme unserer Englischlehrerin war schwach durch die Tür zu hören. Ich stand nur da, während seine Blicke Löcher in mich hineinbohrten.
»Auch wenn ich dir nichts bedeute, hätte ich zumindest erwartet, dass du dich für das Baby interessierst.«
Er lachte, wie ich es schon tausendmal gehört hatte, nur noch nie so mies.
»Ich habe keine Ahnung, was daran so witzig ist«, sagte ich.
Er hörte sofort auf zu lachen. »Witzig daran ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob es mein Baby ist.«
Was?
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich hier der einzig mögliche Kandidat bin. Ich habe nämlich herausgefunden, dass letztes Jahr viel mehr abging, als ich wusste. Delaney …«
»Delaney?«, rief ich und fuhr dann leiser fort: »Was hat Delaney dir erzählt?«
Kamran fuhr sich mit den Händen durchs Haar, eine Geste, an die ich mich so gut erinnern konnte als ob es meine eigene wäre.
»Ich wusste, dass du mir nicht alles erzählt hast, aber ich wollte dich nicht drängen, ich dachte immer, es ginge um deine Schwester. Aber in der ganzen Zeit, in der ich lernen und arbeiten musste, hast du Party gemacht, warst auf Camping-Trips … und immer hast du was verheimlicht. Was
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