Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
Unannehmlichkeiten erträglich machen müsse, die
    20
    er ihr in seinem gegenwärtigen Zustand nun einmal zu verur-
    sachen gezwungen war.
    Schon am frühen Morgen, es war fast noch Nacht, hatte
    Gregor Gelegenheit, die Kraft seiner eben gefaßten Entschlüs-
    se zu prüfen, denn vom Vorzimmer her öffnete die Schwester,
    25
    fast völlig angezogen, die Tür und sah mit Spannung herein.
    Sie fand ihn nicht gleich, aber als sie ihn unter dem Kanapee
    bemerkte - Gott, er mußte doch irgendwo sein, er hatte doch
    nicht wegfliegen können - erschrak sie so sehr, daß sie, ohne
    sich beherrschen zu können, die Tür von außen wieder zu-
    30
    schlug. Aber als bereue sie ihr Benehmen, öffnete sie die Tür
    sofort wieder und trat, als sei sie bei einem Schwerkranken
    oder gar bei einem Fremden, auf den Fußspitzen herein. Gre-
    gor hatte den Kopf bis knapp zum Rande des Kanapees vorge-
    schoben und beobachtete sie. Ob sie wohl bemerken würde,
    35
    daß er die Milch stehen gelassen hatte, und zwar keineswegs
    aus Mangel an Hunger, und ob sie eine andere Speise herein-
    bringen würde, die ihm besser entsprach? Täte sie es nicht von
    selbst, er wollte lieber verhungern, als sie darauf aufmerksam
    machen, trotzdem es ihn eigentlich ungeheuer drängte, un-
    40
    term Kanapee vorzuschießen, sich der Schwester zu Füßen zu
    werfen und sie um irgendetwas Gutes zum Essen zu bitten.
    _________________________________________________________________

    Franz Kafka: Erzählungen

    - 20 -
    Aber die Schwester bemerkte sofort mit Verwunderung den
    noch vollen Napf, aus dem nur ein wenig Milch ringsherum
    verschüttet war, sie hob ihn gleich auf, zwar nicht mit den
    bloßen Händen, sondern mit einem Fetzen, und trug ihn hin-
    5
    aus.
    Gregor war äußerst neugierig, was sie zum Ersatz bringen
    würde, und er machte sich die verschiedensten Gedanken
    darüber. Niemals aber hätte er erraten können, was die
    Schwester in ihrer Güte wirklich tat. Sie brachte ihm, um sei-
    10
    nen Geschmack zu prüfen, eine ganze Auswahl, alles auf einer
    alten Zeitung ausgebreitet. Da war altes halbverfaultes Gemü-
    se; Knochen vom Nachtmahl her, die von festgewordener
    weißer Sauce umgeben waren; ein paar Rosinen und Mandeln;
    ein Käse, den Gregor vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt
    15
    hatte; ein trockenes Brot, ein mit Butter beschmiertes und
    gesalzenes Brot. Außerdem stellte sie zu dem allen noch den
    wahrscheinlich ein für allemal für Gregor bestimmten Napf, in
    den sie Wasser gegossen hatte. Und aus Zartgefühl, da sie
    wußte, daß Gregor vor ihr nicht essen würde, entfernte sich
    20
    eiligst und drehte sogar den Schlüssel um, damit nur Gregor
    merken könne, daß er es so behaglich machen dürfe, wie er
    wolle. Gregors Beinchen schwirrten, als es jetzt zum Essen
    ging. Seine Wunden mußten übrigens auch schon vollständig
    geheilt sein, er fühlte keine Behinderung mehr, er staunte
    25
    darüber und dachte daran, wie er vor mehr als einem Monat
    sich mit dem Messer ganz wenig in den Finger geschnitten,
    und wie ihm diese Wunde noch vorgestern genug weh getan
    hatte.
    "Sollte ich jetzt weniger Feingefühl haben?", dachte er und 30
    saugte schon gierig an dem Käse, zu dem es ihn vor allen
    anderen Speisen sofort und nachdrücklich gezogen hatte.
    Rasch hintereinander und mit vor Befriedigung tränenden
    Augen verzehrte er den Käse, das Gemüse und die Sauce; die
    frischen Speisen dagegen schmeckten ihm nicht, er konnte
    35
    nicht einmal ihren Geruch vertragen und schleppte sogar die
    Sachen, die er essen wollte, ein Stückchen weiter weg. Er war
    schon längst mit allem fertig und lag nun faul auf der gleichen
    Stelle, als die Schwester zum Zeichen, daß er sich zurückzie-
    hen solle, langsam den Schlüssel umdrehte. Das schreckte ihn
    40
    sofort auf, trotzdem er schon fast schlummerte, und er eilte
    wieder unter das Kanapee. Aber es kostete ihn große Selbst-
    _________________________________________________________________

    Franz Kafka: Erzählungen

    - 21 -
    überwindung, auch nur die kurze Zeit, während welcher die
    Schwester im Zimmer war, unter dem Kanapee zu bleiben,
    denn von dem reichlichen Essen hatte sich sein Leib ein wenig
    gerundet und er konnte dort in der Enge kaum atmen. Unter
    5
    kleinen Erstickungsanfällen sah er mit etwas hervorgequolle-
    nen Augen zu, wie die nichtsahnende Schwester mit einem
    Besen nicht nur die Überbleibsel zusammenkehrte, sondern
    selbst die von Gregor gar nicht berührten Speisen,

Weitere Kostenlose Bücher