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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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Grabe ruhte. Er dachte auch daran, daß es noch hundert, noch tausend Weiber gäbe wie die, mit der er heut nacht im Stadtpark gesessen und die nichts viel Besseres war als eine Dirne. Er fühlte mit einer Deutlichkeit wie nie zuvor die ungeheure Ungerechtigkeit, die an der Toten geschehen war, und ahnte einen lächerlichen Betrug, der an ihm verübt werden sollte. Und wenn er an den kommenden Nachmittag dachte, war es ihm unmöglich, sich eine andere in seinen Armen vorzustellen als seine Frau. Er fühlte sich wehrlos, und das erfüllte ihn mit Zorn.
    Vormittags im Büro kam für eine kurze Zeit Ruhe über ihn. Einen Moment dachte er daran, jene Person gar nicht zu besuchen. Dieser Einfall machte ihn geradezu leichter atmen. Dann tauchte ein anderer Gedanke auf: wohl zu ihr zu gehen, sich aber nach einer letzten Wonnestunde von ihr und zugleich von allen Freuden der Welt zu verabschieden und so, wie er sich neulich vorgenommen, in ein Kloster zu treten.
    Er saß lang bei Tisch, trank einen besseren Wein als gewöhnlich und ging dann zu ihr. Es war ein sehr heißer Nachmittag, und das Pflaster war ganz weiß von Sonne. Als er in die Wollzeile kam, wehte ihm eine kühlere Luft entgegen. Die Straße, in der ihr Haus stand, lag im tiefsten Schatten und war menschenleer. Das Fenster, aus dem er sie vor zwei Tagen hatte blicken sehen, war geöffnet, doch waren die Vorhänge heruntergelassen und bewegten sich leicht im Luftzug.
    Er trat durch das Haustor, schritt die Stiege hinauf. Währenddem erinnerte er sich jenes Abenteuers aus der Jugendzeit. Auch damals pflegte er um diese Stunde zu seiner Geliebten zu gehen. Die Türe oben war angelehnt, er öffnete sie, Therese stand vor ihm, doch nahm er ihre Züge in dem dunklen Vorzimmer nicht deutlich wahr. Sie schloß die Türe rasch und öffnete die Türe zum nächsten Zimmer so schnell, daß der Fenstervorhang durch den Luftzug in die Höhe flog und Gustav einen Augenblick den Dachfirst des Hauses gegenüber sehen konnte. Die Türe zum anstoßenden Zimmer stand offen. Gustav legte den Hut auf den Tisch, setzte sich, sie neben ihn.
    »Haben Sie einen weiten Weg her gehabt?« fragte sie.
    Er blickte durch die offene Tür. Er sah ein schlechtes Ölbild, die Madonna mit dem Jesukinde vorstellend, das über dem Bette hing.
    »Nein, ganz nah«, sagte er.
    Sie hatte einen dunkelroten Schlafrock an, mit sehr weiten Ärmeln, der den Hals frei ließ. Ihr Blick schien ihm frech, ihre Züge minder jung als gestern abend. Er glaubte jetzt, daß er weggehen werde, ohne auch nur ihre Fingerspitzen berührt zu haben.
    »Hier wohn' ich«, sagte sie, »aber noch nicht gar lang.« Sie fing wieder zu plaudern an, erzählte von ihrer früheren Wohnung, die »ihm« nicht gefallen hätte, weshalb er ihr diese hier gemietet; dann redete sie von einer Schwester, die in Prag verheiratet sei, dann von ihrem »Ersten«, einem Hausbesitzersohn, der sie hatte sitzen lassen, dann von einer Reise nach Venedig, die sie mit einem »Ausländer« unternommen. Gustav saß regungslos da und ließ sie reden ... Wo war er da hingeraten! Er, der noch vor wenigen Monaten der Gatte einer tugendhaften Frau gewesen war, die ihm allein gehört und keinem vor ihm ... Was wollte er da? Was hatte er mit der zu tun? ... Wo war sein Verlangen, wo seine Wünsche? ... Er stand auf, als wollte er sich entfernen. Da erhob auch sie sich, breitete die Arme um seinen Hals und zog ihn an sich. Er war ihr so nah, daß er nur das Leuchten ihrer Augen sehen konnte. Wieder stieg der Duft von ihrem Hals empor zu ihm, zugleich fühlte er ihre Lippen heiß auf den seinen ... Wahrhaftig, es war kein anderer Kuß, als er ihn noch im vorigen Herbst empfangen. Es lag in ihm dieselbe Weichheit, dieselbe Wärme, dieselbe Nähe, dieselbe Lust ...
    Er wachte jäh auf. Er hatte die Arme unter seinem Kopf gekreuzt wie oft des Nachts, aber er sah eine andere Decke über sich. Und hier, über ihm, die Madonna mit dem Jesukind, und neben ihm lag eine fremde Frau mit schwergeschlossenen Augen und einem Lächeln um den Mund, und vor wenigen Minuten hatte er Therese in den Armen gehalten, seine verstorbene Frau. Er hatte jetzt nur einen Wunsch: Die da möge ruhig liegenbleiben, die Augen nicht öffnen, die Lippen nicht bewegen, bis er aufgestanden war und sich entfernt hätte. Er wußte, wenn sie von neuem begänne, so zu blicken, so zu lächeln, so zu seufzen und insbesondere so mit den Lippen zu zucken wie die, welche jetzt tot war – er konnte es

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