Erzaehlungen
schritt die zwei Treppen hinauf zu ihrer Haustüre und klingelte. Man öffnete nicht. Er klingelte noch einmal. Man öffnete nicht. Jetzt bemerkte Leisenbohg, daß ein Vorhängeschloß an der Türe angebracht war. – Was sollte das bedeuten? war er fehlgegangen? ... Sie hatte zwar kein Täfelchen an der Tür, aber gegenüber las er wie gewöhnlich: »Oberstleutnant von Jeleskowits ...« Kein Zweifel: er stand vor ihrer Wohnung, und ihre Wohnung war versperrt ... Er eilte die Treppen hinunter, riß die Türe zur Hausmeisterwohnung auf. Die Hausmeisterin saß in dem halbdunklen Raum auf dem Bett, ein Kind guckte durch das kleine Souterrainfenster auf die Straße hinaus, das andere blies auf einem Kamm eine unbegreifliche Melodie. »Ist Fräulein Hell nicht zu Hause?« fragte der Freiherr. Die Frau stand auf. »Nein, Herr Baron, das Fräulein Hell ist abgereist ...«
»Wie?« schrie der Freiherr auf. – »Ja richtig,« setzte er gleich hinzu ... »um drei Uhr, nicht wahr?«
»Nein, Herr Baron, um acht in der Früh ist das Fräulein abgereist.«
»Und wohin? ... Ich meine, ist sie direkt nach –« er sagte es aufs Geratewohl: »ist sie direkt nach Dresden gefahren?«
»Nein, Herr Baron; sie hat keine Adresse dagelassen. Sie hat g'sagt, sie wird schon schreiben, wo sie is.«
»So – ja ... ja – so ... natürlich ... Danke sehr.« Er wandte sich fort und trat wieder auf die Straße. Unwillkürlich blickte er nach dem Haus zurück. Wie anders strahlte die Abendsonne von den Fenstern wider als vorher! Welche dumpfe, traurige Sommerabendschwüle lag über der Stadt. Kläre war fort?! ... warum? ... Sie war vor ihm geflohen? ... Was sollte das bedeuten? ... Er dachte zuerst daran, in die Oper zu fahren. Aber es fiel ihm ein, daß die Ferien schon übermorgen anfingen und daß Kläre in den letzten zwei Tagen nicht mehr beschäftigt war.
Er fuhr also in die Mariahilferstraße sechsundsiebzig, wo die Ringeiser wohnten. Eine alte Köchin öffnete und betrachtete den eleganten Besucher mit einigem Mißtrauen. Er ließ Frau Ringeiser herausrufen. »Ist Fräulein Fanny zu Hause?« fragte er in einer Erregung, die er nicht mehr bemeistern konnte.
»Wie meinen?« fragte Frau Ringeiser scharf.
Der Herr stellte sich vor.
»Ah so,« sagte Frau Ringeiser. »Wollen sich der Herr Baron nicht weiterbemühen?«
Er blieb im Vorzimmer stehen und fragte nochmals: »Ist Fräulein Fanny nicht zu Hause?«
»Spazieren der Herr Baron doch weiter.« Leisenbohg mußte ihr folgen und befand sich in einem niedern, halbdunkeln Zimmer mit blausamtenen Möbeln und gleichfarbigen Ripsvorhängen an den Fenstern. »Nein,« sagte Frau Ringeiser, »die Fanny ist nicht zu Haus. Fräulein Hell hat sie ja mit auf den Urlaub genommen.«
»Wohin?« fragte der Freiherr und starrte auf eine Photographie Klärens, die in einem schmalen Goldrahmen auf dem Klavier stand.
»Wohin – das weiß ich nicht,« sagte Frau Ringeiser. »Um acht in der Früh war das Fräulein Hell selber da und hat mich gebeten, daß ich ihr die Fanny mitgeb'. Na, und sie hat so schön gebeten – ich hab nicht nein sagen können.«
»Aber wohin ... wohin?« fragte Leisenbohg dringend.
»Ja, das könnt ich nicht sagen. Die Fanny telegraphiert mir, sobald das Fräulein Hell sich entschlossen hat, wo sie bleiben will. Vielleicht schon morgen oder übermorgen.«
»So,« sagte Leisenbohg und ließ sich auf einen kleinen Rohrsessel vor dem Klavier niedersinken. Er schwieg ein paar Sekunden, dann stand er plötzlich auf, reichte Frau Ringeiser die Hand, bat um Entschuldigung wegen der verursachten Störung und ging langsam die dunkle Treppe des alten Hauses hinunter.
Er schüttelte den Kopf. Sie war sehr vorsichtig gewesen – wahrhaftig! ... vorsichtiger als notwendig ... Daß er nicht zudringlich war, hatte sie wohl wissen können.
»Wohin fahren wir denn, Herr Baron?« fragte der Kutscher, und Leisenbohg merkte, daß er schon eine Weile im offenen Wagen gesessen war und vor sich hingestarrt hatte. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, antwortete er: »Ins Hotel Bristol.«
Sigurd Ölse war noch nicht abgereist. Er ließ den Freiherrn auf sein Zimmer bitten, empfing ihn mit Begeisterung und bat ihn, den letzten Abend seines Wiener Aufenthaltes mit ihm zu verbringen. Leisenbohg war schon von dem Umstand ergriffen gewesen, daß Sigurd Ölse überhaupt noch in Wien war, seine Liebenswürdigkeit aber rührte ihn geradezu zu Tränen. Sigurd begann sofort, von Kläre zu sprechen.
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