Erzaehlungen
Erinnerung ich mit mir nach Hause bringe. Wer es mir vor einer Woche prophezeit hätte! Ach, nun bin ich doch wenigstens wieder in der Zeitrechnung drin. Heute ist wieder Sonntag. Ja, ja, es ist nicht länger als acht Tage, daß es begann. Nun ja, mein lieber Theodor, ich lebe ein zärtliches Idyll, in dessen Verlauf ein Tag ist wie der andere, das kein Ende zu haben scheint, von dem man sich kaum einen Anfang vorstellen kann. Ja, ich lebe es, denn ich fühle nicht mehr, daß ich es spiele. Wenn ich des Abends den breiten weichen Hut und den Samtrock nehme, so ist mir, als könnt' es gar nicht mehr anders sein, und wenn ich mit dem süßen Geschöpf ins Freie hinausspaziere und Arm in Arm mit ihr weit draußen an der Grenze der Stadt oder im Wald herumflaniere, dann weiß ich kaum mehr, daß es lauter Lügen sind, die ich ihr von mir erzähle, denn die Hauptsache ist ja doch wahr: daß ich mich nämlich seit einer unsäglich langen Zeit nicht so wohl befunden wie jetzt.
Ja, es ist wieder einmal die Jugendliebe, die erste Liebe, wenn du willst, die man ab und zu wieder erlebt, wenn man ein Sonntagskind ist oder wenn das Schicksal einen für einen guten Einfall belohnen will. – Weißt Du, daß ich zuweilen glaube, ich bin die letzten Jahre verkleidet durch die Welt gegangen und habe jetzt die Maske abgelegt? Ich begreife selbst nicht, was mir für Worte über die Lippen kommen, wenn ich mit ihr bin, und was für Stimmungen mich einhüllen. Was das für Stunden sind abends auf dem Lande! Und neulich einmal, am Morgen, als wir irgendwo, nicht weit von Wien, aber in einem jener Orte, wo nie ein Wiener hinkommt, in einem kleinen Gasthof erwachten und durchs Fenster herein ein himmelblauer Tag lachte! Wie wir uns den Tisch in den kleinen Obstgarten rücken ließen und unsern Kaffee tranken, während der Morgenwind leise durch die Bäume rauschte. – Wenn wir getrennt sind und sie zu ihrer Arbeit zurückkehrt, so wie ich angeblich zu der meinigen – da habe ich ein kindisches Bedürfnis, vor ihrem Fenster auf und ab zu gehen, um nur in ihrer Nähe zu sein. Und dabei ist das Komische, ich weiß erst seit gestern, wo ihr Fenster ist. Die Gasse, wo sie wohnt, kannte ich. Aber das Fenster, hinter dem sie arbeitet – das war auch so eine der zärtlichen Ideen, die sich in ihrem Kindskopf tummeln –, das sollt' ich selbst heraussuchen, und ich mußte es finden, wenn ich sie wirklich lieb hätte. Und da bin ich denn vor den sechsundsiebzig Fenstern im dritten Stockwerk, die sich in jener Gasse befinden, auf und abgegangen und habe das ihre, nun magst Du lachen, wenn Du willst, richtig aus den sechsundsiebzig (ich habe sie gezählt) herausgefunden. Sie war selig, wie ich ihr's sagte. An den Blumen hatte ich es erkannt. Und nun muß ich Dir sogar gestehen, daß ich heute nacht in dieser Gasse auf und ab gegangen und im Mondenschein vor dem Fenster gestanden bin wie ein dummer Bub! – Das ist, was die Sache so sonderbar und neu für mich macht: Dieses Ineinandergleiten von Stimmungen keuscher Jugendliebe und reifen Schwelgens. Und denke nur: vollkommen um meiner selbst willen werd' ich geliebt. Die Veilchen, die ich ihr bringe, küßt sie tausend Mal'. Und unsere Abende in den kleinen Wirtsgärten der Vorstadt! Und wie ich ihr dann, wenn wir so zusammensitzen vor dem Glas »Gespritzten«, von meiner früheren Existenz erzähle! Du bist gewiß nicht böse, wenn ich Dir gestehe, daß ich teilweise Deine Biographie und ganz speziell Deine Lehr-, Studien- und Liebesjahre in München mit jenen Veränderungen, welche mein schwaches Gedächtnis notwendig macht, benütze und mir auch gestatte, Deine Fußwanderungen durch Thüringen und die Schweiz und insbesondere Dein Genfer Abenteuer mit der englischen Malerin für meinen Gebrauch zu bearbeiten. Ach, wie sie da an meinen Lippen hängt! Wie man ihr die Rührung ansieht! – Und dann laß ich mir wieder von ihr erzählen; da kommen mir wirklich manchmal die Tränen! An wieviel Traurigkeit und Süßigkeit wir doch vorübergehen, um Lustiges und Schales dagegen einzutauschen. Denn meine Verliebtheit macht mich durchaus nicht blind, und ich bin überzeugt, daß es noch hundert solcher Geschöpfe wie meine kleine Josefine gibt. Aber mir ist manchmal, als würde es jetzt erst der Kleinen klar, was bisher mit ihr geschah, und ich fühle, wie dankbar sie mir für die Art und Weise ist, in der ich sie behandle! Und mit eigentümlicher Wehmut erfüllt es mich, wenn ich an ihre Zukunft denke,
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