Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
Vom Netzwerk:
entgegengesetzten Seite Amerikas, macht aus Lima eine der angenehmsten Städte der Neuen Welt. Der Wind hält hier zwei kaum jemals wechselnde Richtungen ein: entweder weht er aus Südwesten und kühlt sich durch den Pacifischen Ocean ab, oder aus Südosten, wobei er von den Gipfeln der Cordilleren die erfrischende Luft mit herbeiträgt.
    Die Nächte sind in den tropischen Zonen schön und klar. Sie sind mit jenem so wohlthuenden Duft geschwängert, den ein fruchtbarer Boden, auf welchen die Sonne vom wolkenlosen Himmel herabbrannte, ausathmet. So verschieben auch die Bewohner Limas ihre Empfangsstunden auf die spätere Nacht, wenn die Häuser sich abgekühlt haben, bald leeren sich dann die Straßen, und kaum hört man noch aus einem Gasthause den Lärm fröhlicher Zecher.
    Am heutigen Abend gelangte das junge Mädchen, dem die alte Duenna folgte, unbelästigt bis zur Brücke der Rimac und lauschte ängstlich auf jedes Geräusch, das ihre Erregung leicht übertrieb, und immer glaubte sie die Schellen eines Maulthiergespanns oder das Pfeifen eines Indianers zu vernehmen.
    Dieses junge Mädchen, Namens Sarah, kehrte zu ihrem Vater, dem Juden Samuel, zurück. Sie trug ein dunkelfarbiges Kleid mit reichen Falten, das unten sehr eng war, so daß sie nur kleine Schritte machen konnte, was ihr jene den Limenserinnen so eigene Grazie verlieh; den mit Spitzen und Blumen verzierten Rock bedeckte zum Theil ein seidener Mantel, der in Form einer Capuze den Kopf verhüllte; die feinsten Strümpfe und Schuhe von Glanzleder wurden unter der geschmackvollen Kleidung sichtbar. Armbänder von hohem Werthe funkelten an den Armen des jungen Mädchens, deren ganze Erscheinung jenen Liebreiz athmete, den die Spanier »
donayre
« nennen.
    Millaflores hatte Recht gehabt. Die Braut Andreas Certas zeigte nichts Jüdisches, als den Namen, denn sie war der getreue Typus jener Señoras, deren Schönheit über alles Lob erhaben ist.
    Die Duenna, eine bejahrte Jüdin, auf deren Gesichte der Geiz und die Habsucht sich spiegelten, diente Samuel mit treuer Ergebung, und empfing von diesem einen angemessenen Lohn.
    Gerade als die beiden Frauen in die Vorstadt San-Lazaro einbogen, ging ein Mann in Mönchskleidung, die Kutte über dem Kopfe, dicht an ihnen vorüber und sah sie aufmerksam an. Dieser Mann hatte eines jener einnehmenden Gesichter, auf welchen die Ruhe und das Wohlwollen ungestört zu wohnen scheinen. Es war der Pater Joachim de Camarones, der im Vorübergehen Sarah verständnißinnig anlächelte, die sofort nach ihrer Dienerin sah, nachdem sie dem Mönche ein graziöses Zeichen mit der Hand gemacht hatte.
    »Nun, Señora, begann ärgerlich die Alte, ist es nicht genug, von jenem Christen insultirt worden zu sein; muß man auch noch einen Pfaffen grüßen? Werden wir Sie etwa bald mit dem Rosenkranze in der Hand bei den kirchlichen Ceremonien mit Theil nehmen sehen?«
    Die kirchlichen Ceremonien stehen nämlich bei den Limenserinnen in großem Ansehen.
    »Sie sprechen da einen sonderbaren Verdacht aus, erwiderte das junge Mädchen erröthend.
    – Einen so sonderbaren, wie Ihr Benehmen! Was würde mein Herr Samuel sagen, wenn er wüßte, was heute Abend geschehen ist?
    – Trifft mich die Schuld, wenn ein frecher Maulthiertreiber mich insultirt?
    – Ich weiß schon, Señora, fuhr die Alte kopfschüttelnd fort, vom Maulthiertreiber ist auch gar keine Rede.
    – So hat also jener junge Mann Unrecht gethan, daß er mich gegen die Injurien der Volksmenge in Schutz nahm?
    – Ist es das erste Mal, daß jener junge Indianer Ihnen in den Weg kam?« fragte die Duenna.
    Das Gesicht des jungen Mädchens war zum Glück durch den Schleier geschützt, denn die Dunkelheit wäre nicht hinreichend gewesen, ihre Verwirrung bei dem forschenden Blicke der alten Dienerin zu verbergen.
    »Doch, lassen wir den Indianer, fährt Jene fort, es wird meine Sache sein, ihn im Auge zu behalten. Aber darüber beklage ich mich, daß Sie, um jene Christen nicht zu stören, Lust hatten, während ihres Gebetes stehen zu bleiben. Sie wären wohl auch gern mit in die Kniee gesunken? O, Señora, Ihr Vater hätte mich sofort aus dem Hause gejagt, wenn ich eine solche Apostasie geduldet hätte.«
    Doch das junge Mädchen hörte nicht auf ihre Worte. Die Bemerkung der Alten bezüglich des jungen Indianers hatte ihr gar seltsame Gedanken erregt. Die Intervention des jungen Mannes erschien ihr wie ein Werk der Vorsehung, und wiederholt wandte sie sich zurück, um zu sehen, ob er

Weitere Kostenlose Bücher