Es bleibt natürlich unter uns
sich und schrieb ihr zum Fest einen acht Seiten langen Brief. Wie immer im Doppelumschlag, außen: Aldenried, ,Haus Sonnenschein’ und innen auf dem zweiten Umschlag ihren Namen, denn sonst hätte man auf der Post den Braten womöglich gerochen. Auch Postbeamte sind Menschen. Und offiziell befand sich Jo für Aldenberg noch immer in Sheffield. Er schickte ihr auch ein Geschenk, zwei Bücher, die er selber liebte und die auch ihr gefallen würden, Stacpooles ,Blaue Lagune’ und die ,Desirée’ von Selinko. Auch von ihr kam ein Paket. Er öffnete es erst am Heiligen Abend, den er allein in seiner Bude verbrachte. Zwei Kriminalromane und eine Flasche Hennessy, die ihm der alte Lobmüller zusammen mit anderen Spirituosen in einem pompösen Freßkorb überreicht hatte, genügten ihm als Gesellschaft. Zwar hatte der Chef ihn aufgefordert, den Abend bei ihm zu feiern, aber er hatte sich mit einer Einladung, der er schon früher zugesagt zu haben vorgab, entschuldigt. Es war nicht das erste Weihnachtsfest, das er allein verlebte. Aber noch nie hatte er sich so gottverlassen einsam gefühlt. Das Paket von Jo enthielt unter Zweigen und einem winzigen Tannenbäumchen mit mikroskopisch kleinen roten Wachskerzen einen dicken, handgestrickten graublauen Lumberjack. Jo selber hatte ihn angefertigt. Er probierte ihn, betrachtete sich im Spiegel und hatte so ein warmes Gefühl auf der Brust wie damals, als er Jo auf der Bank über dem Fluß in der kühlen Mainacht in seinen Mantel gehüllt neben sich gespürt hatte. Plötzlich wußte er, daß er diesen Abend nicht überstehen würde, wenn er es versäumte, sie zu sprechen. Mit dem Mantel über dem Lumberjack rannte er zur Redaktion und meldete das Gespräch an. Die Verbindung kam in wenigen Minuten.
„Jo...!“ rief er atemlos und lauschte.
Ihre Stimme klang so deutlich in sein Ohr, als stände sie neben ihm.
„Lothar... du... ich habe es gewußt, daß du mich anrufen würdest! Ich habe es so genau gewußt, daß ich seit einer halben Stunde in der Halle neben der Telefonzelle auf das Läuten der Verbindung gewartet habe...“
„Ich höre dich, als wärest du hier im Zimmer...“
„Leider stehe ich nicht neben dir...“
„Ich weiß, du würdest dir dafür wieder einmal den kleinen Finger abhacken... Und ich auch, wenn ich jetzt durch ein kleines Wunder bei dir sein dürfte... Wie geht es dir?“
„Ich sehe aus wie eine Termitenkönigin, — und ich fühle mich auch so. Hast du einmal eine gesehen?“
„Reizende Tierchen — und wenn ich mich nicht irre, für Negerzungen eine Delikatesse...“
„Da stehen wir nun und reden Unsinn... Und dabei möchte ich heulen — vor Freude heulen, daß ich dich höre. Was habe ich auf diesen Anruf gewartet! Weshalb hast du mich so lange zappeln lassen?“
„Ja, ich weiß, ich hätte es längst tun sollen, aber dann kam immer etwas dazwischen... Aber hör zu, Jo: am zehnten Januar nehme ich mir für vierzehn Tage Urlaub und komme zu dir..
„Nein, nicht, ich bitte dich...!“
„Du kannst mich ja im Bett empfangen. Vom Hals an nach oben bist du doch ziemlich unverändert, nicht wahr? Na also! Auf Wiedersehen! Leb wohl — nein, keine weiteren Einwände! — und schönen Dank für das wollene Ding, da hast du ein Prachtstück fertiggebracht, — ich glaube, ich werde es Tag und Nacht tragen... Noch einmal: auf Wiedersehn — und ein frohes Fest!“
Er ging durch die menschenleeren Straßen langsam heim. Hinter verhängten Fenstern brannten hier und da noch die Kerzen an den Bäumen. Für ihn allein leuchteten die elektrischen Kerzen an der hohen Tanne, die die Stadt in das kleine Rondell vor der Lourdes-Kapelle gestellt hatte. Er war sehr froh, den Schock überwunden zu haben, den die alte Frau ihm — vielleicht in bester Absicht — versetzt hatte.
*
Es schneite ohne Unterbrechung drei Tage und drei Nächte lang. Es war eine Schneesintflut. In den Wäldern gab es zahlreiche Schneebrüche, teilweise rissen die Drähte der Telefonleitungen unter der weißen Last, so daß viele Verbindungen unterbrochen wurden, auf den Straßen stockte der Autoverkehr, Orte, die an Nebenverbindungen lagen, wurden völlig abgeschnitten, und auch die Züge trafen teilweise mit stundenlangen Verspätungen an ihren Bestimmungsbahnhöfen ein; auch der Zug von München, den Herr van Dorn benutzte, kam eineinhalb Stunden nach der fahrplanmäßigen Zeit in Aldenberg an.
Lothar Lockner nahm im ,Lamm’ gerade das Abendessen ein, als Herr van Dorn
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