Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
Mit Jüdinnen nicht! Bei mir nicht!«
Er drängte sich fort. Ruth ließ sich von den Paaren hin und her schieben. Ihr stieg ein Lachen in die Kehle. Sieh mal an, der Josef, dachte sie. Bei mir die Rechenaufgaben abschreiben, dazu war er vor ein paar Jahren nicht zu stolz!
Beim nächsten Wechsel geriet sie wieder an Gerd. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie nach Hause wollte. Aber wie sollte sie ihm das erklären? Er führte sie an den Tisch zurück. Diesmal sah er die heranfliegende Papierkugel. Ruth schlug das Herz im Halse. Er las. Wütend zerknitterte er das Papier in der Faust und erhob sich halb. Doch niemand schien etwas bemerkt zu haben. Man schwatzte, lachte, schaute ins Glas.
»Lass uns gehn«, flüsterte Ruth Gerd ins Ohr.
»Das wäre ja noch schöner!«, antwortete er laut.
Einen Augenblick trat Frau Scheldis zu ihnen. »Ich weiß nicht«, tuschelte sie, »irgendetwas ist im Gange. Josefowitsch ist schon gegangen. Sie haben ihm arg zugesetzt.«
»War er betrunken und wollte eine Schlägerei anfangen?«, fragte Gerd.
»Keine Spur. Aber es ist viel fremdes Volk hier. Die haben etwas gegen Juden.«
Wenn es nur die Fremden wären … , dachte Ruth. Sie schaute in die Runde. Fröhliche, ausgelassene Menschen saßen an den Tischen. Hier und da hatte das Bier die Augen der Männer bereits wässrig und stumpf werden lassen. Mitten unter den Frauen und Männern saßen die jüdischen Familien im Kreise ihrer Bekannten, ihrer Nachbarschaft. Zwanzig Personen mochten es sein oder wenige mehr. Dort schwatzte Esther Scheldis mit Hein Ratke, die Deichsels saßen am Tisch neben der Kapelle, Parnitzkis waren da und natürlich Familie Pfingsten. Der Bürgermeister hatte Herrn und Frau Pfingsten an den Ehrentisch gebeten. Der junge Carlos Pfingsten redete auf Franziska Pannbecker ein.
Was trennte die Juden von den anderen Bürgern? Sie lachten, tanzten, tranken miteinander. Ruth spürte durch den Lärm hindurch, dass irgendetwas in der Luft lag. Eine große Angst überfiel sie. Es kam ihr vor, als ob die Menge sie anstarrte. Das Amphitheater fiel ihr ein, die Geschichten kamen ihr in den Sinn, die Fräulein Reitges vor Jahren in der Schule erzählt hatte, Geschichten von Menschen, die in der Arena sterben mussten, weil viele tausend Augenpaare Blut sehen wollten. Ein Schauder überlief sie. Sie krallte ihre Hände um die Kante des Stuhlsitzes.
Von fern drang Frau Scheldis’ Stimme an ihr Ohr. Dann hörte sie Gerd: »Darf ich Ruth später nach Hause bringen?«
»Wir gehen gemeinsam«, wich Frau Scheldis der Frage aus. »Wenn du dich anschließen willst?« Dann ging sie.
Kaum hatte sie ihren Tisch wieder erreicht, als eine laute Stimme über das Gesumm und Gebrumm der Unterhaltungen hinwegklang: »Mörderpack raus.«
Die Gespräche verstummten. Alle Augen suchten nach dem Schreihals. Da tönte aus einer anderen Ecke des Saales: »Juden raus!«
»Was soll das heißen?« Herr Pfingsten war aufgestanden und schritt in die Mitte des Saales.
»Ich hoffe, liebe Mitbürger, dass Sie …« Mehr konnte niemand verstehen.
»Judenschweine raus.«
»Schmeißt sie raus!«
»Gebt es den Kindesmördern!«
Eine Flasche flog durch den Saal und zerschellte auf der Tanzfläche. Scharf wie auf dem Exerzierplatz befahl der Kapellmeister: »Seite 27.« Kaum ließ er Zeit zum Blättern. »Einsatz: eins, zwei.«
Die Soldaten spielten: Fridericus Rex.
Doch wenn der Kapellmeister gehofft hatte, die Musik werde den Aufruhr ersticken, dann sah er sich getäuscht. Ruth starrte mit aufgerissenen Augen in den Tumult.
Herr Pfingsten wich bis an den Tisch des Bürgermeisters zurück. Doch der Platz des Stadtoberhauptes war leer. Die anderen Tischgenossen schienen ihn nicht zu bemerken. Verwirrt bedeutete er seiner Frau und seinem Sohn, den Saal zu verlassen.
Ruth flog ein Bierdeckel gegen den Hals. Angst überwältigte sie. Sie floh dem Ausgang zu. Eine schwere Männerfaust traf sie zwischen den Schulterblättern. Sie stolperte über ein Bein, doch fiel sie nicht, erreichte die Tür, stürzte sich ins Dunkle. Zuerst wollte sie sich hinter einem Baum in der Allee verbergen, doch dann fiel ihr das weiße Kleid ein. Sie rannte weiter, bald ganz außer Atem. Die Brust schmerzte bei jedem Atemzug. Endlich erreichte sie das Stadttor, die Häuser. Vom Schützenhaus her tobte der Lärm. Glas klirrte. Das trieb sie weiter. Sie presste die Fäuste gegen die Ohren. Völlig erschöpft, gelangte sie schließlich nach Hause. Weinen
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