Es gibt kein nächstes Mal
offensichtlich ohnehin schon so schnell, wie es ihr nur irgend möglich
war.
Gemma konnte ihr ansehen, daß es ihr schwerfiel.
Sie zwang sich zur Ruhe, doch es war für sie zunehmend schwieriger, die Geduld
zu bewahren.
»Also, ich habe mir folgendes gedacht«, fuhr
Shirley fort. »Wenn sie noch nicht einmal wissen, daß sie gestorben ist, dann
müssen sie weit von der Fährte entfernt sein...« Sie unterbrach sich. »...aber,
verstehst du, ein paar Wochen später ist wieder ein Brief eingetroffen, und
diesmal hatten sie gründlichere Arbeit geleistet und mich aufgespürt. Der Brief
war an mich persönlich gerichtet, und man hat mich um Informationen zu diesem
Thema gebeten. Daher habe ich zurückgeschrieben. Ich habe ihnen mitgeteilt, daß
Stella inzwischen tot ist und daß es das beste ist, all das ruhen zu lassen...«
»Aber...«
»Warte... die geben so schnell nicht auf,
verstehst du... und daher habe ich mir Gedanken darüber gemacht. Mein Gewissen
befragt, wenn du es so nennen willst. Die Sache ist die, Gemma, daß ich Stell
ein Versprechen gegeben habe, verstehst du, aber dann habe ich mir gesagt, nun,
vielleicht liegt es jetzt ohnehin nicht mehr an mir. Der Junge hat zwei
Schwestern. Die Entscheidung, ob du ihn kennenlernen willst, liegt jetzt bei
dir..., aber ich wollte, daß du vorher alles über Stell erfährst«, fügte sie
hinzu, »damit du dir keine schlechte Meinung über sie bildest, verstehst du...«
»Aber ich denke doch gar nicht daran...«, setzte
Gemma an, doch dann brach ihr Protest ab.
Jetzt fiel ihr wieder ein, daß sie noch vor zwei
Wochen kaum in der Lage gewesen war, Estellas Namen auszusprechen, ohne in Wut
zu geraten. Jetzt, nachdem sie das Gefühl hatte, sie besser zu kennen,
bedauerte sie es, daß ihre Mutter es nicht über sich gebracht hatte, ihnen
allen die Wahrheit anzuvertrauen. In ihrem Leben hatte es so viele Ausflüchte
gegeben. Das Problem mit den Lügen war, daß sie ein Gerüst von weiteren Lügen
benötigten, um sich darauf zu stützen, obwohl die Wahrheit soviel einfacher
gewesen wäre.
»Hat mein Vater etwas von dem Baby gewußt?«
fragte Gemma.
»Ich glaube nicht. Nein, ich bin sicher, daß er
nichts davon gewußt hat.«
In ihrem Kopf konnte Shirley Estellas Stimme am Morgen
ihrer Hochzeit hören: »Versprich mir, nichts zu sagen, Shirl, versprich es
mir!«
Und auch Estellas Stimme Jahre später, in der
Nacht ihres Todes. »Versprich mir, Shirl, daß du es niemals jemandem sagen
wirst...«
»Geh ins Bett, Stell. Wir reden morgen früh
darüber«, hatte ihre Antwort gelautet.
»Versprich es mir...«
Das waren die letzten Worte, die sie aus ihrem
Mund gehört hatte.
Nachdem sie dieses Versprechen jetzt gebrochen
hatte, rechnete sie nahezu damit, daß sich etwas Einschneidendes ereignen würde:
Sie würde vom Blitz getroffen werden, oder vielleicht würde es auch ein
Herzinfarkt sein. Doch es passierte nichts. Die Uhr, die die
Ladenbesitzerinnung ihnen zu ihrer silbernen Hochzeit geschenkt hatte, tickte
leise. Es war der einzige Laut, der in der vollkommenen Stille des Raums zu
hören war.
Schließlich sagte Gemma: »Also, ich weiß, daß
ich meinen Bruder gern treffen würde, und ich bin sicher, daß es Daisy genauso
geht, aber ich muß sie fragen...« Shirley sah sie an und nahm ihr Zögern
augenblicklich wahr. »Wir hatten einen kleinen Krach miteinander«, gab Gemma
zu. »Ich glaube, im Grunde genommen habe ich mich recht albern verhalten...«
Als sie jetzt daran dachte, womit Daisy sie
derart verärgert hatte, erschien es ihr banal. Sie hatte ein paar Briefe etwas
eher gelesen, als es Gemma lieb war. Sie schämte sich.
»Bei Familienangehörigen verliert man manchmal
die richtige Perspektive«, sagte Shirley verständnisvoll, »aber du kannst froh
sein, daß du eine Schwester hast, Gemma. Eine bessere Beziehung gibt es nicht.
Ja, Schwestern können einen ärgern, das ist schon wahr. Sie können einen in den
Wahnsinn treiben. Und sie können einen auch verletzen, schlimmer als jeder
andere. Aber wenn ich einen Wunsch offen hätte und ein geliebter Mensch zu mir
zurückkehren könnte, dann würde ich ohne jedes Zögern Stell wählen. Ich nehme
an, das sollte ich nicht sagen, stimmt’s? Der arme alte Ken. Aber ich sage dir
eines, Gemma, die Liebe zwischen Schwestern läßt sich mit nichts vergleichen.«
31
Es war so heiß, daß eine Dunstglocke wie ein
zartes graues Spinnennetz über London hing. In Los Angeles herrscht Smog,
dachte
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