Es ist niemals vorbei
dass das Leben wie geplant verläuft, ist ohnehin zum Scheitern verurteilt. Im reifen Alter von sechsunddreißig Jahren hatte ich diese Lektion gelernt.
Den Karton aus Macs Büro trug ich ins Wohnzimmer, wo Ben auf dem Fußboden saß und mit Farbstiften die Zeitschriften dekorierte, die ich vor ihm ausgebreitet hatte. Ich setzte mich zu ihm und begann, Macs persönliche Gegenstände auszupacken. Viele waren es nicht.
Ich entdeckte einen Ersatzakku für sein Privathandy. Geschäftlich hatte er ein BlackBerry benutzt. Wahrscheinlich gehörte es inzwischen seinem Nachfolger bei Quest.
Dann waren da ein neues Oberhemd, noch immer in der Verpackung, ein Paar saubere schwarze Socken und ein kleiner Toilettenbeutel – Macs Ausrüstung für die Tage, an denen er ohne Vorwarnung zu einer Geschäftsreise aufbrechen musste.
Unten in dem Karton lag eine Sporttasche mit Jogginghose, einem alten T-Shirt, weißen Frotteesocken und ausgetretenen, ehemals weißen Turnschuhen. Das waren die Sachen, die Mac brauchte, wenn er über die Mittagszeit in sein Fitnessstudio in Manhattan ging. An den Turnschuhen hatte er gehangen wie an einem alten Schulfreund, der zwar nicht mehr zu seinem Leben passte, aber nicht im Stich gelassen werden durfte. Zu Weihnachten hatte ich vorgehabt, ihn mit einem neuen Paar mit allen Schikanen zu überraschen.
Als Nächstes stieß ich auf eine zerlesene Ausgabe von Zolas
Germinal
. Das Buch musste ihm jemand geliehen haben, der wusste, wie gern Mac klassische Romane las. Von dieser Vorliebe hatte ich erst erfahren, als Mac und ich bereits ein Liebespaar waren. Er hatte sich seine Bücher vorwiegend aus der Bibliothek besorgt, deshalb war sein Bücherregal eher karg bestückt. Ohnehin war Mac kein Mann gewesen, der sich zur Schau stellte, sondern eher ein verschlossener Mensch. Nur dem Geduldigen gelang es, diese Schichten langsam abzuschälen. Doch je weiter man zu ihm vordrang, desto mehr wurde man belohnt, denn Mac war von Natur aus gut – wenn auch kompliziert. Warum hatte ich seine Neigung zu Depressionen nicht erkannt? Ich hätte ihn aus dem Abgrund zurückholen können – oder vielmehr aus dem Wasser. Der Tod durch Ertrinken musste beängstigend und qualvoll sein.
Warum hatte ich seinen Zustand nur nicht erfasst?
Ich legte das Buch zur Seite und fischte den letzten Gegenstand aus dem Karton, einen weißen, zusammengefalteten Zettel. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den Beleg eines Juweliergeschäfts in Midtown-Manhattan über ein Schmuckstück, das in adretter Handschrift als
Goldkette (
18
k), Anhänger mit Brillanten und Rubinen besetzt
bezeichnet worden war. Der Beleg war vor drei Wochen ausgestellt worden, und die Summe belief sich auf tausendzweihundert Dollar. Wahrscheinlich hatte Mac vorgehabt, mir die Kette zu unserem zweiten Hochzeitstag zu schenken, doch angesichts des Preises verschlug es mir den Atem. Für derart extravagante Geschenke hatten wir kein Geld. Andererseits hatte Mac zu diesem Zeitpunkt gerade eine beträchtliche Gehaltserhöhung bekommen. Noch einmal warf ich einen Blick auf das Datum des Belegs. Vier Tage nach Macs Beförderung war er ausgestellt worden, drei Tage vor dem Tod seiner Eltern. Aber wo bewahrte er diese Kette nur auf? Etwas dermaßen Wertvolles im Büro zu lagern, war nicht klug, aber zu Hause hätte ich die Kette finden können. Hatte er geplant, mir dieses Geschenk an dem Freitag während unseres Dinners zu überreichen oder an unserem Hochzeitstag, dem Samstag? Ich versuchte mir vorzustellen, was in seinem Kopf vorgegangen war, und stellte fest, dass ich es nicht konnte. Es kamen nur noch mehr Fragen und Unsicherheiten, die mich immer unglücklicher machten. Plötzlich zweifelte ich sogar daran, dass das Geschenk für mich hatte sein sollen, und das hätte ich vor seinem Verschwinden nie getan.
Ich hob Ben hoch, setzte ihn auf meine Hüfte, brachte ihn nach unten in sein Zimmer und wechselte seine Windeln. Anschließend gab ich ihm seinen weichen braunen Schmusehasen, den er freudig an sich drückte. Dann trug ich Ben ins Schlafzimmer, setzte ihn auf den Fußboden und begann, Macs Sachen zu durchsuchen. Alles nahm ich mir vor: die Schubladen der Kommode, den Kleiderschrank, sämtliche Taschen seiner Anzüge, den kleinen Sekretär, an dem ich den Papierkram erledigte, und die beiden Schübe des Aktenschranks. Ich schaute unter dem Bett nach und unter der Matratze. Dann widmete ich mich dem Gästezimmer, insbesondere dem Schrank, der
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