Es ist niemals vorbei
einen Laden, um zu sehen, ob man dort noch Halloween-Kostüme bekommen konnte. Am Morgen hatte meine Mutter nachgefragt, als was ich Ben in diesem Jahr verkleiden wollte, und ich musste zugeben, dass ich die Sache glatt vergessen hatte. Meine Mutter hatte mir einen Blick zugeworfen, der Bände sprach. Immerhin war Halloween schon am nächsten Tag, und ich hatte schon vor zwei Wochen, als wir das letzte Mal darüber gesprochen hatten, versprochen, ich würde mich darum kümmern. Dass dieser Tag so schnell gekommen war, machte mich fassungslos. Aber seit neuestem kam es mir immer so vor, als würde die Zeit einfach dahinschmelzen, als sei sie nur noch ein Meer, in dem ich versank. Ich begriff, dass Macs Abwesenheit endgültig war – eine entsetzliche, kalte Leere, die mich umgab. Die Tage vergingen, dehnten sich zu Wochen und Monaten, und immer noch war ich ohne ihn. Seit einer Weile ließ ich mich gehen. Ich vergaß Termine und trug meine Kleidung tagelang, ehe ich sie in den Wäschekorb steckte. Für mein Studium konnte ich nicht lernen. Ich schaffte es nicht, mich auf einen Text zu konzentrieren. Ich war nie vorbereitet und schwänzte deshalb die meisten Stunden. Und dann noch dieser mütterliche
Blick
. Ich beschloss etwas, das mir seit Tagen schon durch den Kopf gegangen war: Ich würde mein Studium ruhenlassen, zumindest für eine Weile. In dieser Zeit wollte ich mich sammeln und mir überlegen, was ich als Nächstes tun konnte. An diesem ersten Herbsttag kehrte ich aus dem Immatrikulationsbüro des John Jay College zurück. Jetzt stand offiziell fest, dass ich als Sechsunddreißigjährige mein Studium abgebrochen hatte.
In dem Laden schaute ich die kleinen Kostüme durch, die hier an Stangen hingen. Darüber hatte man ein Schild mit der Aufschrift
Für die Jahreszeit
befestigt. Ich kaufte ein Tigger-Kostüm, das so aussah, als könnte es Ben passen. Beim Verlassen des Ladens war es draußen noch ein wenig dämmriger geworden. Eine Dreiviertelstunde später, als ich aus der U-Bahn hoch zur Smith Street stieg, war es bereits dunkel.
Schon beim Öffnen der Haustür roch ich, dass meine Mutter ein Huhn im Ofen hatte. Wie ich sie kannte, würde sie dazu ihr Allerlei aus Kartoffelscheiben, Zwiebeln und Möhren machen. Seit meine Mutter vor zwei Wochen bei mir eingezogen war, hatte sie Abend für Abend gekocht und sich tagsüber mit mir um Ben gekümmert. Ihre Mietwohnung hatte sie aufgegeben. Das war zum Glück ein Leichtes gewesen, denn sie hatte keinen langfristigen Vertrag gehabt. So konnten wir unsere Ausgaben teilen, denn meine Berufsunfähigkeitsrente reichte nicht aus, um neben allem anderen auch noch die Kosten für ein Doppelhaus zu bestreiten.
Drei Wochen nach Macs Verschwinden hatte ich mich erst aufraffen können, die aufgelaufenen Rechnungen in Angriff zu nehmen, und schlagartig wurde mir die Realität bewusst: Das zweite Einkommen fehlte einfach. Quest hatte die Überweisungen von Macs Gehalt zwei Wochen nach seinem angeblichen Tod eingestellt. Und da die Polizei diesen sogenannten Tod als Selbstmord eingestuft hatte, hatte auch die Lebensversicherung nichts gezahlt. Das Haus wiederum konnte ich nicht verkaufen, denn es gehörte Mac und mir gemeinsam. Deshalb hätte ich für den Verkauf seine Unterschrift, seine Vollmacht oder seinen Totenschein gebraucht. Aber ich besaß nichts dergleichen. Ein Totenschein ohne Leiche wurde erst sieben Jahre nach dem Verschwinden eines Menschen ausgestellt, es sei denn, man erwirkte einen gerichtlichen Beschluss, wozu ich nicht bereit war, denn ich hatte noch immer Schwierigkeiten, meinen Mann für tot zu halten. Den Menschen, die ich kannte, erklärte ich, dass ich mich mit Macs Tod abgefunden hätte. Das traf auch halbwegs zu, immerhin versuchte ich, mich abzufinden. Es war wohl die Polizistin in mir, die eine Leiche brauchte, ehe sie einen Tod als unumstößlich akzeptierte. Mit der Zeit begriff ich auch, weshalb es so wichtig für die Angehörigen war, dem aufgebahrten Toten vor der Beerdigung noch einmal die letzte Ehre zu erweisen. Auf die Weise konnte sich jeder davon überzeugen, dass der Betreffende tatsächlich verschieden und nur noch seine Hülle geblieben war. Einen Leichnam konnte man nicht in Frage stellen. Es heißt zwar, dass die Hoffnung ewig währt, doch selbst sie kann nichts gegen einen toten Körper ausrichten. So weit also der Stand meiner Erkenntnis. Darüber hinaus lernte ich jedoch, dass der Tod ganz unterschiedliche Auswirkungen haben
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