Es ist niemals vorbei
mehr gesehen.» Ethan gähnte und schaute auf seine Uhr. «Vielleicht sollte ich vor der ersten Runde noch ein Nickerchen machen.» Anmutiger, als ich es je könnte, ließ er sich von seinem Barhocker gleiten. «Und noch viel Glück bei der Suche nach Dylan.»
«Welchem Dylan?»
«Na, Ihrem Mann.»
«Mein Mann heißt Mac.»
«Wie? Tja, dann ist er es wohl doch nicht.» Er schaute mich argwöhnisch an.
«Das ist alles ein bisschen zu viel für mich», gestand ich. In meiner Gefühlswelt ging es zu wie auf einem Jahrmarkt. Mal fuhr ich Achterbahn, mal saß ich in der Geisterbahn oder drehte mich auf einem Karussell, oder ich zog Lose. Aus Aufregung wurde Verwirrung, dann Entschlossenheit, die in Enttäuschung überging und in Kummer endete. Mac war doch
tot
, oder nicht?
«Sie werden ihn schon noch finden.»
«Nein, das glaube ich nicht.»
«Möglich ist alles. Ich habe mir auch immer Sorgen gemacht und überlegt, ob es irgendwo einen Doppelgänger von mir geben könnte.» Der Gedanke schien ihn zu entsetzen.
Ich schluckte meine Tränen herunter und holte tief Luft. «Ich wünschte, ich wäre nie hierhergekommen.»
«Geht mir genauso.»
«Ja aber – okay, soll ich Ihnen mal etwas sagen?»
«Schießen Sie los. Mich haut so schnell nichts um.» Als Ethan lächelte, sah ich, dass doch eine gehörige Portion Charme in ihm steckte.
«Hören Sie auf zu trinken. Gehen Sie irgendwohin, wo Sie ernsthaft Musik studieren können. Hauptsache, es ist nicht –»
«Florida», beendete er meinen Satz und grinste. Dann wurde er ernst und sein Blick skeptisch. Aber ich machte weiter.
«Ich meine das ganz ernst. Werden Sie Pianist, wenn das Ihr Wunsch ist.» Schon holte ich einen Stift aus meiner Handtasche und schrieb meine Telefonnummer auf eine Serviette. «Kommen Sie nach New York und rufen Sie mich an, wenn Sie da sind.»
Sichtlich gerührt faltete Ethan die Serviette und steckte sie in seine Smokingtasche. «Schönen Dank dafür und nochmals viel Glück bei der Suche nach Ihrem Mann.»
Ich schaute ihm ins Gesicht und vergaß den Smoking, das gefärbte Haar und den Lidstrich, denn der Blick seiner braunen Augen mit den goldenen Einsprengseln war plötzlich ganz mitfühlend und warm. «Mein Mann ist tot», sagte ich.
So, dachte ich. Das war es. Das war die endgültige Bestätigung.
Ich sah zu, wie Ethan sich an den Tischen vorbei durch die Lounge schlängelte und in Richtung der Aufzüge verschwand. Meine närrische Mission war beendet. Es war Zeit, wieder nach Hause zu fliegen. Ich zahlte für meine Getränke und verließ die Bar zutiefst erschöpft.
In der Empfangshalle sah ich Ethan noch einmal. Er stand in einer Aufzugskabine und wartete, dass sie sich schloss. Von seinem angetrunkenen Zustand war nichts mehr zu erkennen. Er wirkte ganz klar und sehr selbstbewusst. Er stritt sich heftig mit einem zweiten Mann in der Kabine. Was sie sagten, konnte ich nicht hören, doch ihre Stimmen waren laut. Der andere war ein Mexikaner mit buschigen Brauen und kantigem Gesicht, der den Streit angefangen hatte, aber sicher war ich mir nicht. Kurz bevor sich die Aufzugstür schloss, warf mir dieser Mexikaner einen Blick zu, einen einzigen Blick mit schwarzen, wutentbrannten Augen. Sein Hemd war halb aufgeknöpft und enthüllte eine Tätowierung: eine lavendelblaue Dahlie. Direkt unter seinem linken Schlüsselbein.
Für einen Moment schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war die Aufzugstür geschlossen. Zögernd trat ich vor und wartete auf die nächste freie Kabine.
Ich meinem Zimmer angekommen, warf ich meinen Koffer aufs Bett, klappte ihn auf und begann hastig zu packen. Ich musste die Spukgestalten aus meinem Kopf vertreiben! Vielleicht hatte ich ja zu viel getrunken, ich wusste nicht einmal mehr, ob es zwei oder drei Cocktails gewesen waren. Aber musste ich deswegen gleich halluzinieren? Der Mann auf dem Foto hieß in Wahrheit Dylan. Deidres vermeintlicher Rücken gehörte einer Frau namens Ana Maria. Ich sah Gesichter und Körper und jetzt auch noch kleine Tattoo-Dahlien. Über kurz oder lang würde ich wahrscheinlich Stimmen hören.
Ich musste von hier fort, wieder dahin, wo ich zu Hause war. Zurück in die Wirklichkeit, zu Ben und meiner Mutter.
Als ich meine Fluggesellschaft anrief, musste ich erfahren, dass es bis zum nächsten Vormittag keinen freien Sitzplatz mehr gab. Die Flüge nach New York waren für Sonntagabend seit Wochen ausgebucht, schließlich herrschte in Florida gerade Hochsaison.
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