Es ist niemals vorbei
längst kalt geworden war. Mir wurde flau im Magen.
Hatte ich tatsächlich vor, Jasmine nach Boston zu folgen? Und Mac in Mexiko nachzujagen? Hinein ins Herz der Dunkelheit zu fliegen?
Wollte ich es wirklich riskieren, dass Ben als Waise zurückblieb?
Immer wieder durchdachte ich alle Möglichkeiten. Ich konnte Ben nicht im Stich lassen.
Alle fünf Minuten versuchte ich, Fred und Hyo in ihrem Büro zu erreichen. Kurz nach acht meldete sich Fred.
«Hallo, Karin Schaeffer hier.»
«Ich weiß, weshalb Sie anrufen. Es geht um Special Agent Alvarez.» Fred klang distanziert. Wahrscheinlich ärgerte er sich, dass ich mich schon wieder in die Angelegenheiten der DEA einmischte. Aber für mich war es persönlich und sehr dringend. Ich würde mich nicht abwimmeln lassen.
«Sie ist auf dem Weg nach Mexiko.»
«Und weiter?»
«Ich weiß, dass Sie mir ihre Pläne nicht verraten werden.»
«Richtig.»
«Aber vielleicht könnten Sie mir ja sagen, wie sie dort hinkommt.»
«Sie wird sicher nicht zu Fuß gehen.»
«Fliegt sie mit einer der regulären Fluggesellschaften?»
Schweigen. Ein Seufzer. «Nein.»
Mehr musste ich nicht wissen. Jasmine würde in Logan landen und umgehend mit einem der kleinen privaten Überwachungsflugzeuge Richtung Mexiko geschafft werden. Die Idee, sie abzufangen und mit ihr zu reden, war gestorben.
Ich hatte ja beschlossen hierzubleiben. Wegen Ben. Denn er war das Wichtigste in meinem Leben. Wenn ich kopflos losrannte und Mac und Jasmine ins Auge des Orkans folgte, würde ich genau das tun, wovon ich Mac abgeraten hatte. Ich würde mein Kind im Stich lassen und darüber hinaus eine Heuchlerin werden, nein, noch schlimmer: Ich wäre eine schlechte Mutter.
Mac hatte sich entschieden. Seine Wahl schmerzte mich und erschütterte mein Vertrauen in ihn, aber umstimmen konnte ich ihn nicht mehr. Stattdessen musste ich meine eigene Wahl treffen, eine, die für mich Sinn ergab.
Ich war in der Armee gewesen.
Dann Polizistin.
Später Detective.
Zweimal verheiratet, einmal Witwe.
Zweimal Mutter – mit einem Kind, das noch lebte. So viel war gewiss.
Und ich würde nicht nach Mexiko fliegen. Ich würde Ben und meine Mutter keinen Tag, keine Woche oder gar ein Leben lang alleinlassen.
Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.
In diesem Fall war der Spatz in der Hand besser als alles andere.
Siebzehn
Shore Haven war so angelegt, dass man spazieren gehen, laufen oder radeln konnte, ohne jemals irgendwo anzukommen. Dann und wann kam man an einem geschlossenen Café vorbei oder an einem Laden mit eingeschränkten Öffnungszeiten, einem abgedeckten Schwimmbecken oder dem mit Eiszapfen bewehrten Aussichtsturm. Aber wenn man diese Orte nicht bewusst ansteuerte, konnte man sich in dem Gewirr der langen, gewundenen Pfade geradezu verlieren. Meine Mutter und ich lenkten uns mit langen Spaziergängen ab, setzten Ben in seinen Buggy und liefen einfach drauflos, vergaßen die Zeit und kehrten schließlich zu dem Schneepalast zurück, den wir inzwischen als unser Zuhause bezeichneten.
Vor unserem ersten Ausflug hatten wir unsere neue Bibel konsultiert, den Ringordner in der Küche, der uns unter anderem auch unsere Grenzen aufzeigte. Dieser Ordner war keine Infobroschüre für Feriengäste, sondern ein Regelwerk voller Sicherheitsbestimmungen, ausgestellt von einer Bundesbehörde. Zwar in freundlichem Ton, aber wenn man zwischen den Zeilen las, offenbarte sich die wahre Botschaft, und die lautete:
Seid vorsichtig
.
Wir passten uns an. Wir waren weder Gefangene noch Zeugen, sondern potenzielle Opfer, die vor einer konkreten Gefahr geschützt wurden – vor Ana, die auf uns lauerte.
Die sich auf uns stürzen würde, falls man sie nicht vorher fasste.
Es klang wie eine Wahnidee, nur dass diese leider wahr war. Hin und wieder schauten meine Mutter und ich uns verwirrt an und fragten: «Was um alles in der Welt tun wir eigentlich hier?» Doch dann nickten wir und sagten wie aus einem Mund: «Mexiko.» Damit war alles gesagt. Wir wussten, dass das Schicksal jederzeit zuschlagen konnte; es war keine Frage, ob, sondern nur wann und wie. Ich betete, dass Ana einen Fehler machte, sich vielleicht überschätzte und ihren Häschern in die Arme lief.
Was Mac und seine Entscheidung betraf, die Wahl, die er getroffen hatte, schwankte ich zwischen Zorn und Verständnis. Mitunter kamen mir meine Gefühle für ihn vor wie die Pfade von Shore Haven: gewunden, sich in alle Richtungen verlierend, ohne jemals
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