Es muß nicht immer Kaviar sein
3. Februar 1943.
Es war kalt, und der Himmel über der Mark Brandenburg glich einem grauen Tuch. Ununterbrochen erfüllte das Dröhnen der niedrig fliegenden Schulmaschinen die Luft.
Wie, so wird der geneigte Leser mit Recht fragen, war Thomas Lieven, dereinst jüngster, elegantester und erfolgreichster Privatbankier Londons, hierher verschlagen worden? Welche Laune des Schicksals hatte ihn in eine Turnhalle des Ausbildungslagers Wittstock an der Dosse geschleudert?
Thomas Lieven, der Pazifist und Feinschmecker, der Frauenverehrer und Militärverächter, der Mann, der die Geheimdienste haßte, hatte sich entschlossen, wieder für einen Geheimdienst zu arbeiten. Mit Oberst Werthe fuhr er in das Pariser Hotel »Lutetia«. Dort traf er Admiral Canaris, den geheimnisvollen Mann der deutschen Abwehr.
Thomas Lieven wußte: Wenn er an die Gestapo zurückgegeben wurde, war er in einem Monat tot. Es hatten sich schon Blutspuren in seinem Urin gefunden. Und Thomas Lieven dachte: Das scheußlichste Leben ist immer noch besser als der allerehrenhafteste Tod.
Trotzdem – er verleugnete auch vor dem weißhaarigen Admiral seine Grundsätze nicht: »Herr Canaris, ich werde für Sie arbeiten, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Aber ich gebe zu bedenken: Ich töte niemanden, ich bedrohe niemanden, ich ängstige, drangsaliere und entführe niemanden. Wenn Sie mir solche Aufgaben übertragen wollen, dann gehe ich lieber zurück in die Avenue Foch.«
Mit schwermütigen Augen schüttelte der Admiral den Kopf. »Herr Lieven, die Mission, bei der ich Sie einsetzen möchte, soll dem Ziel dienen, Blutvergießen zu verhindern und Menschenleben zu retten – soweit das überhaupt in unserer Macht steht.« Canaris hob die Stimme. »Deutsche Leben und französische. Ist Ihnen das sympathisch?«
»Menschenleben zu retten ist mir immer sympathisch. Die Nationalität oder die Religion sind mir dabei egal.«
»Es geht um die Bekämpfung gefährlicher französischer Partisanenverbände. Einer unserer Leute meldet, daß eine neuaufgebaute starke Widerstandsgruppe sich bemüht, mit London in Verbindung zu kommen. Bekanntlich unterstützt das ›War Office‹ die französische Résistance und leitet viele dieser Gruppen. Die betreffende Gruppe braucht noch ein Funkgerät und einen Code-Schlüssel. Beides werden Sie den Leuten liefern, Herr Lieven.«
»Aha«, sagte Thomas.
»Sie sprechen fließend Englisch und Französisch. Sie haben jahrelang in England gelebt. Sie werden als britischer Offizier mit dem Fallschirm über dem Partisanengebiet abspringen und ein Funkgerät mitbringen. Ein besonderes Funkgerät.«
»Aha«, sagte Thomas zum zweitenmal.
»Ein britisches Flugzeug wird Sie in die Gegend bringen. Wir haben ein paar erbeutete RAF -Maschinen, die wir für solche Fälle einsetzen. Natürlich müssen wir Sie zuvor als Fallschirmspringer ausbilden lassen.«
»Aha«, sagte Thomas Lieven zum drittenmal.
4
»Und Rolleeeee vorwärts!« schrie Bieselang. Die zwölf Herren, die da vor ihm in schmutzigen Drillichanzügen auf dem schmutzigen Hallenboden herumkugelten, hatte der rasende Feldwebel erst seit vier Tagen in der Mache. Sie lebten abseits von den rund tausend regulären Soldaten, die in Wittstock an der Dosse als Fallschirmjäger ausgebildet wurden.
»Und Rolleeeee rückwärts!«
Schon heftig schwitzend und mit schmerzenden Knochen kugelte Thomas Lieven wieder nach hinten. Den beiden Indern neben ihm rutschten die Turbane über die Augen.
Ihr dämlichen Hunde, dachte Thomas. Ich muß – aber ihr? Ihr habt euch freiwillig gemeldet, ihr Armleuchter! Der Italiener war ein Abenteurer. Der Norweger, der Ukrainer und die Deutschen waren offensichtlich Idealisten, und die beiden Inder waren Vettern des Politikers Subhas Chandra Bose, der vor zwei Jahren aus seiner Heimat nach Deutschland geflohen war.
»So, Schluß mit Rollen! Sprung auf, marsch, maaaarsch! An die Hochrecks! Bißchen dalli, ihr faulen Säcke, wird’s bald?«
Außer Atem, mit Seitenstechen und Herzbeschwerden, rasten zwölf Mann in Drillichanzügen durcheinander und begannen zu den Reckstangen emporzuklettern, die sich unter der Hallendecke, fünf Meter über dem Boden, befanden.
»Schwingen! Werdet ihr wohl ordentlich schwingen, ihr vollgefressenen Drückeberger?«
Thomas Lieven schwang.
Er kannte das alles bereits, es war ein Teil der sogenannten Bodenübungen. Man mußte lernen, sich fallen zu lassen. Aus einem Flugzeug herauszuspringen war offensichtlich
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