Es muß nicht immer Kaviar sein
»Brenner hat Berlin angerufen. Spätestens morgen in der Früh gibt’s da unten a Sonderaktion. Was mit die Leut g’schieht, is’ klar.«
Thomas dachte: Professor Débouché. Die schöne Yvonne. Leutnant Bellecourt. Viele, viele andere. Noch leben sie. Noch atmen sie. Bald wird man sie verhaften. Bald werden sie tot sein.
»Junge«, sagte Raddatz, »jetzt habe ick ma vier Jahre jedrückt. Noch nich eenen Menschen habe ick jetötet. Scheißjefühl, det wa uff eenmal mit schuld sind …«
»Wir sind nicht daran schuld«, sagte Thomas. Und dachte: Ihr nicht. Aber ich? Ich, ausweglos bereits eingesponnen in Lüge und Betrug, Täuschung und Arglist. Bin ich noch unschuldig?
Schlumberger sagte: »Herr Lieven, dös is doch ausg’schlossen, daß mir jetzt den Partisanen helfen, die wo unsere Kameraden umlegen!«
»Ja«, sagte Thomas, »das ist ausgeschlossen.« Und er dachte verzweifelt: Was kann man tun? Was soll man tun? Wie bleibt man ein anständiger Mensch?
»Karli hat recht«, sagte der Berliner. »Sehen Se mal, ick bin ooch keen Nazi. Aba Hand uffs Herze: Anjenommen, diese Partisanen kriejen mir in die Mache. Würden die mir jlooben, det ick keen Nazi bin?«
»Die scheißen da wos. Die legen di um. Für die is a Deutscher a Deutscher.«
Thomas stocherte gedankenvoll an seinem Fisch herum. Plötzlich stand er auf. Er sagte: »Eine Möglichkeit gibt es doch. Eine einzige.«
»Wat for ’ne Möjlichkeit?«
»Etwas zu tun – und doch ein anständiger Mensch zu bleiben«, sagte Thomas. Er ging in eine Telefonzelle, rief das Hotel »Lutetia« an und verlangte Oberst Werthe. Der meldete sich nervös.
Thomas hörte viele Stimmen. Der Oberst schien in einer Besprechung zu sein. Schweiß rann Thomas über das Gesicht. Er dachte: Anständig bleiben. Gegen die anständigen Menschen in meinem Land. Gegen die anständigen Menschen in diesem. Kein Verräter werden. Kein Phantast. Kein Sentimentalist. Nur Leben retten … Leben retten …
Thomas sagte heiser: »Herr Oberst, hier ist Lieven. Ich habe Ihnen einen Vorschlag von größter Wichtigkeit zu machen. Sie werden allein nicht darüber entscheiden können. Ich bitte, mich anzuhören und danach sofort Herrn Admiral Canaris zu verständigen.«
»Was ist das für ein Quatsch?«
»Herr Oberst, wann beginnt die Aktion da unten?«
»Morgen früh. Warum?«
»Ich bitte Sie,
mich
die Aktion leiten zu lassen!«
»Lieven! Ich bin durchaus nicht zu Späßen aufgelegt. Meine Geduld ist erschöpft!«
»Hören Sie mich an, Herr Oberst«, rief Thomas. »Bitte, hören Sie, was ich Ihnen vorzuschlagen habe …«
5
Es war 4 Uhr 45 am Morgen des 6. August 1943, als ein original britisches »Lysander«-Flugzeug Kurs auf die französische Stadt Clermont-Ferrand nahm. Aus brauenden Nebelmassen stieg eben der gleißende Ball der Sonne empor.
Der Pilot, von seinem Passagier durch eine Wand getrennt, griff nach dem Bordtelefon und sprach: »Landung in zwanzig Minuten, Sonderführer!«
»Danke«, sagte Thomas Lieven und klinkte den Telefonhörer neben sich ein. Dann saß er reglos in der winzigen Kabine und blickte hinaus auf den makellos reinen Himmel und auf die weißlich-grauen Nebelschleier, die noch die schmutzige Erde mit ihren Kämpfen und Intrigen, ihrer Niedrigkeit und Dummheit verdeckten.
Thomas Lieven sah elend aus. Eingefallen war sein Gesicht, die Augen lagen in dunklen Höhlen. Er hatte die schwerste Nacht seines Lebens hinter sich und den schwersten Tag seines Lebens vor sich.
Zehn Minuten später ging der Pilot tiefer. Die »Lysander« durchbrach die morgendliche Nebeldecke. Clermont-Ferrand, Sitz eines Bischofs und einer Universität, lag unter ihnen – schlafend noch, ohne Leben, mit leeren Straßen.
Um 5 Uhr 15 trank Thomas Lieven im Dienstzimmer des Tiroler Hauptmanns Öllinger heißen Kaffee. Der stämmige kleine Kommandeur der Gebirgsjägereinheit, die vor Clermont-Ferrand ihren Standort hatte, studierte Thomas Lievens Geheimdienstausweis genau.
Er sagte: »Ich habe ein langes Fernschreiben von Oberst Werthe bekommen. Er hat vor einer Stunde auch mit mir telefoniert. Sonderführer, meine Leute stehen zu Ihrer Verfügung.«
»Zunächst bitte ich nur um einen Wagen, der mich in die Stadt bringt.«
»Ich gebe Ihnen zehn Mann mit.«
»Danke, nein. Was ich zu tun habe, muß ich allein erledigen.«
»Aber …«
»Hier ist ein versiegelter Brief. Wenn Sie bis acht Uhr nichts von mir gehört haben, öffnen Sie ihn. Er enthält alle notwendigen
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