Es muß nicht immer Kaviar sein
Morgen und – gute Reise.« Sie zogen beide die Hüte. Auch Thomas zog seinen Hut. Die Jäger gingen weiter und verschwanden im Wald.
Thomas atmete eine Weile tief, dann ging er zu der Futterhütte zurück. Chantal saß im Heu und rieb sich stöhnend den Hals. Er war rot unterlaufen.
Thomas setzte sich neben sie und sagte: »Verzeihen Sie das vorhin, aber ich wollte nicht … Sie sollten nicht …« Er kam ins Stottern und endete hilflos: »Es waren nur Jäger.«
Plötzlich schlang Chantal die Arme um Thomas und preßte sich wild an ihn. Sie sanken zurück.
Über Thomas gebeugt, flüsterte Chantal: »Du hast mich schützen wollen, du wolltest mich nicht in Gefahr bringen, du hast an mich gedacht …« Ihre Hände strichen zärtlich über sein Gesicht. »Das hat noch nie ein Mann getan – kein Mann in meinem Leben …«
»Was?«
»An mich gedacht«, flüsterte Chantal.
In der Süße ihrer gewalttätigen Küsse versanken für Thomas alles Elend und alle Angst, dunkle Vergangenheit und dunkle Zukunft …
15
Im Jahre 1942 umstellten sechstausend Mann deutscher Truppen das alte Hafenviertel von Marseille und zwangen die Bewohner – etwa zwanzigtausend Menschen –, innerhalb von zwei Stunden ihre Wohnstätten zu verlassen, wobei sie höchstens 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen durften. Es wurden über dreitausend Kriminelle verhaftet. Das gesamte alte Hafenviertel wurde gesprengt. Solcherart verschwand die farbenprächtigste Brutstätte des Lasters in Europa, der gefährlichste Ausgangspunkt verbrecherischer Unternehmen.
In den Jahren 1940/41 jedoch erlebte das alte Hafenviertel gerade seine größte Blütezeit. In den düsteren Häusern hinter dem Rathaus wohnten Angehörige sämtlicher Nationen: Flüchtlinge, Schwarzhändler, gesuchte Mörder, Fälscher, politische Verschwörer, Legionen leichter Mädchen.
Die Polizei war machtlos und vermied es überhaupt so lange wie irgend möglich, im »Alten Viertel« zu erscheinen. Herrscher in diesem dunklen Reich waren die Chefs mehrerer Banden, die einander unerbittlich und erbarmungslos bekriegten. Mitglieder dieser Banden waren Franzosen, Nordafrikaner, Armenier, viele Korsen und Spanier.
Die Bandenchefs waren stadtbekannt. Sie bewegten sich stets nur in Begleitung ihrer Leibwachen durch die schmalen, bunten Gassen. Zwei, drei Herren schritten rechts, zwei, drei Herren links von ihrem Boß im Gänsemarsch dahin, die rechte Hand in der Tasche, mit dem Zeigefinger am Abzug des Revolvers.
Staatlicherseits wurden Beamte der »Contrôle économique«, der »Wirtschaftskontrolle«, eingesetzt, deren Aufgabe es war, den blühenden Schleichhandel zu bekämpfen. Doch diese Kommissare erwiesen sich zum größten Teil als bestechlich und zu einem weiteren Teil als feige. Nach Einbruch der Dunkelheit wagten sie sich nicht mehr auf die Straße. Dann aber begann der Tanz der Käseräder, die von einem Haus ins andere rollten, und der Fleischstücke, die aus geheimen Schlächtereien in die Restaurants geschafft wurden.
Aus dunklen Quellen stammten denn auch die schöne, junge Lammkeule, die Butter, die grünen Böhnchen und alle anderen Zutaten, mit welchen Thomas Lieven am Abend des 25. November 1940 in Chantal Tessiers Küche ein wohlschmeckendes Essen bereitete.
Chantal wohnte in der Rue Chevalier à la Rose. Wenn man sich aus dem Fenster neigte, konnte man das schmutzige Wasser des rechteckigen »Alten Hafens« sehen und die bunten Lichter der zahllosen Cafés, die ihn umgaben.
Die Größe, aber auch die Einrichtung von Chantals Wohnung hatten Thomas überrascht. Vieles war barbarisch, so etwa die Zusammenstellung kostspieliger supermoderner Beleuchtungskörper mit echten antiken Möbeln. Ohne Zweifel war Chantal völlig verwildert aufgewachsen, unverbildet und von keiner Kultur beleckt.
An diesem Abend trug sie ein raffiniertes, enganliegendes, hochgeschlossenes Kleid aus bestickter Chinaseide, darüber aber aparterweise einen schweren, handbreiten Ledergürtel. Sie zeigte überhaupt eine Vorliebe für Rohleder und dessen Geruch.
Thomas unterdrückte höflich jede Kritik an Chantals geschmacklichen Verirrungen. Er trug – zum erstenmal in seinem Leben – einen fremden Anzug, der ihm allerdings wie angegossen paßte.
Chantal hatte gleich nach der Ankunft einen großen Schrank geöffnet, der gefüllt war mit Herrenhemden, Herrenwäsche, Krawatten und Anzügen. Sie hatte gesagt: »Nimm, was du brauchst. Pierre war so groß wie du.« Widerstrebend hatte
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