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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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selbst, durchflutet von Mitleid und Liebe zu ihr, zugleich aber erschrocken über ihre beunruhigende Weiblichkeit, diese Brüste, den Schlitz, ihren weichen Körper. Du mußt ja nicht, Bob, sagte sie immer wieder, du mußt ja nicht, wirklich nicht, aber er antwortete, daß er unbedingt will, es wird langsam Zeit, daß wir’s mal versuchen, nachdem wir uns schon so lange kennen, es wird dich aufmuntern, Toni, und jeder Mann braucht schließlich ein bißchen Abwechslung, stimmt’s? Ihre Not geht ihm zu Herzen, er tut sich Zwang an, aber sein Körper widerstrebt, und als es dann doch soweit kommt, geschieht es hastig, hilflos fummelnd, ist es ein Aufeinandertreffen gequälter, widerwilliger Körper, das in Tränen, Zittern und Zagen, geteiltem Leid und schließlich Lachen, einem Triumph über den Schmerz endet. Wie die Kinder nebeneinanderliegend schlafen sie ein. Wie kultiviert, wie liebevoll! Meine arme Toni. Leb wohl. Leb wohl. »Ich bin froh, daß sie Sie hat«, sagte ich. Er begleitete mich zum Lift. Was soll ich schreien? »Wenn sie sich ein bißchen beruhigt hat, werde ich dafür sorgen, daß sie Sie anruft«, versprach er. Seine eigene Geste imitierend, legte ich ihm die Hand auf den Arm und schenkte ihm das schönste Lächeln meines Repertoirs. Leb wohl.
19
    Dies ist also meine Höhle. Im elften Stock der Marble Hill Houses, am Broadway/228th Street, ehemals ein Sozialwohnungsprojekt, nunmehr Auffangzentrum für klassenlosen, entwurzelten Großstadtabschaum. Zwei Zimmer, Küche, Bad, Flur. Früher durfte man hier nur wohnen, wenn man verheiratet war und zwei Kinder hatte. Heutzutage haben, mit der Begründung, daß sie mittellos sind, auch ein paar Ledige hier Zuflucht gefunden. Wenn eine Großstadt verfällt, ändert sich alles, haben keine Vorschriften mehr Bestand. Der weitaus größte Teil der Bewohner rekrutiert sich aus Puertoricanern, mit einigen wenigen Iren und Italienern untermischt. In diesem riesigen Papistennest ist David Selig eine Anomalie. Manchmal hat er das Gefühl, seinen Nachbarn tagtäglich ein herzhaftes Absingen des Shma Yisroel schuldig zu sein, aber leider ist ihm der Text nicht bekannt. Vielleicht Kol Nidre. Oder das Kaddish. Dies ist das Brot der vom Schicksal Geschlagenen, das unsere Vorväter im Land Ägypten aßen. Er kann froh sein, daß er aus Ägypten ins Gelobte Land geführt worden ist.
    Wünschen Sie eine Führung durch David Seligs Höhle? Aber gern. Hier entlang, bitte. Berühren Sie bitte nichts, und kleben Sie vor allem keinen Kaugummi an die Möbel. Der sensible, intelligente, liebenswürdige Neurotiker, der Sie führen wird, ist niemand anders als David Selig höchstpersönlich. Trinkgelder sind nicht erwünscht. Herzlich willkommen, Leute, willkommen in meinem bescheidenen Heim. Wir beginnen unseren Rundgang im Badezimmer. Dort sehen Sie die Wanne – der gelbe Fleck auf dem Porzellan war bereits da, als er hier einzog –, dies ist der Lokus, hier das Apothekenschränkchen. Hier verbringt Selig einen großen Teil seiner Zeit; der Raum ist für das Verstehen einer Tiefenanalyse seiner Existenz wesentlich. So duscht er pro Tag zuweilen zwei- bis dreimal. Was, glauben Sie, will er dadurch abwaschen? Laß die Zahnbürste in Ruhe, Kleiner! So, jetzt geht’s weiter. Sehen Sie die Poster hier im Flur? Das sind Artefakte der 60er Jahre. Dies zeigt den Dichter Allen Ginsberg im Uncle Sam-Kostüm. Jenes ist die krude Vulgarisierung einer subtilen topologischen Paradoxie durch den holländischen Grafiker M. G. Escher. Dies zeigt ein nacktes junges Paar beim Liebesakt in der Pazifik-Brandung. Vor acht bis zehn Jahren schmückten Hunderttausende von jungen Menschen ihre Zimmer mit derartigen Postern. Selig, obwohl auch damals schon nicht mehr ganz jung, eiferte ihnen nach. Er hat häufig und immer wieder modische Trends mitgemacht – weil er eine festere Verbundenheit mit den Strukturen der zeitgenössischen Existenz herstellen wollte.
    Jetzt kommen wir ins Schlafzimmer. Dunkel, schmal, mit der für Sozialwohnungen aus der Zeit vor einer Generation typischen niedrigen Decke. Das Fenster halte ich ständig geschlossen, damit ich vom Lärm der Hochbahn, die spät in der Nacht draußen durch den Himmel dröhnt, nicht unnötig geweckt werde. Es ist schon schwer genug, Schlaf zu finden, selbst wenn ringsum alles still ist. Dies ist das Bett, in dem ihn unruhige Träume heimsuchen, sogar jetzt, da er unwillkürlich die Gedanken seiner Nachbarn liest und sie in seine Fantasien

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