Es wird Dich rufen (German Edition)
alten Mann mit dieser Bemerkung wirklich ernst nehmen konnte.
Weder spürte er in dieser Kirche irgendwelche besonderen Kräfte noch würde er sie hier vermuten. Nicht in diesem Raum. Das mochte aber auch daran liegen, dass er mit diesem esoterischen Schnickschnack, wie er solcherlei Dinge gerne bezeichnete, nur herzlich wenig anfangen konnte.
»Der Gral ist hier gegenwärtig, junger Freund!«, bekräftigte Jean. »Er war es immer und wird es immer sein! Betrachten Sie die Statuen: Germaine, Rochus, Antonius, der Eremit, Antonius von Padua und hier drüben noch Lukas! Wenn Sie die Anfangsbuchstaben der Heiligen aneinanderreihen, erhalten Sie das französische Wort für den Heiligen Gral: ›GRAAL‹.«
Der alte Mann ließ sich zwei Reihen hinter Mike nieder und presste den Spazierstock, den er bislang in der rechten Hand gehalten hatte, zwischen seine Füße, um dann mit beiden Händen in die Luft zu greifen, wobei er sie zu einer Faust ballte.
Die Augen hatte er geschlossen und atmete tief ein.
Mike kam das alles merkwürdig vor. Er ließ Jean jedoch gewähren und konzentrierte sich wieder auf das Interieur der Kirche.
Insbesondere den vorderen Bereich hatte er nun im Visier, der vom restlichen Kirchenschiff abgeteilt war. Hier war der Platz für das Allerheiligste dieser Kirche.
Der Altar bestand aus zwei Teilen: einem Basrelief im unteren Bereich und einer stufenförmigen Turmkonstruktion mit Kerzenhaltern darüber.
Die Statuen von Josef und Maria suchten Schutz unter einer Kuppel, die einem Himmelszelt glich.
Beide hielten ein Neugeborenes in den Armen.
Saunière zeigte die Heilige Familie also mit zwei Kindern.
Das irritierte den Journalisten. Wo kam der zweite Junge her? Widersprach das nicht der Weihnachtsgeschichte, wie er sie aus den Evangelien kannte?
»Verzeihen Sie, Jean, aber Maria und Josef tragen beide ein Kind bei sich… Ist das nicht merkwürdig?«, sprach Mike ihn auf seine Entdeckung an.
Über das Gesicht des Alten, der die Augen noch immer geschlossen hielt, huschte ein Lächeln: »Gut, junger Freund. Gut!«
Im Zentrum des Altars stieß Mike auf das Bild der weinenden Maria Magdalena, die ins Gebet vertieft bei einer Grotte vor einem Kreuz kniete, das aus zwei Ästen bestand. Der eine blühte, der andere war abgestorben.
Daneben lagen ein Totenkopf und ein aufgeschlagenes Buch.
Mikes Blick fokussierte sich auf die unnatürlich gekreuzte Handhaltung der Maria. Als er diese nachahmen wollte, musste der Redakteur einsehen, dass es ihm unmöglich war. So sehr er sich auch anstrengte, er bekam es einfach nicht hin.
Plötzlich wurde die wohlige Stille des Kirchenschiffs jäh von einer Reisegruppe unterbrochen, die fotografierend und fachsimpelnd just in diesem Augenblick die Kirche betrat.
Ein Mitglied der Gruppe schien das Gotteshaus schon zu kennen. In italienischer Sprache gab er den anderen wild gestikulierend Hinweise darauf, was sie sich unbedingt anzusehen hätten.
Aufmerksam folgten die Blicke der Gruppe seiner Hand, mit der er nach und nach auf die einzelnen Statuen deutete und jeweils einige Bemerkungen dazu machte.
Der Name Bérenger Saunière tauchte mehr als einmal in den Ausführungen des Reiseleiters auf. Das hatte Mike auch ohne jedwede Kenntnis der italienischen Sprache mitbekommen.
Jean war die Gruppe, die ihn in seiner Meditation störte, offensichtlich unangenehm. Er stützte sich auf seinen Stock und wandte sich dem Ausgang der Kirche zu.
»Es ist vielleicht besser, wenn wir nach draußen gehen.« Zielstrebig verließ Jean die kleine Dorfkirche. Mike folgte ihm notgedrungen. Er selbst hätte sich durch die Touristen nicht irritieren lassen. Beide fanden sich wenig später auf einer Bank im Pfarrgarten wieder. Im Vergleich zu dem angenehm kühlen Innenraum der Kirche entfaltete die Sommersonne hier draußen ihre ganze Kraft und brannte gnadenlos auf Mike und seinen Begleiter nieder. Der Alte hatte damit allerdings weitaus geringere Probleme als Mike. Er schien es gewohnt zu sein.
»Dies war einer von Saunières Lieblingsplätzen!«, sagte Jean. »Früher stand hier auch noch ein Springbrunnen. Er war sein ganzer Stolz.«
Ein tiefes Seufzen und der wehmütige Blick auf die Stelle, an der von dem einst so prächtigen Springbrunnen nur noch eine kaum erkennbare Einlassung im Boden übrig geblieben war, bedrückten Jean. Offensichtlich führte ihm dies vor Augen, dass der Zahn der Zeit an allem und jedem nagte – natürlich auch an dem alten Mann. Alles war
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