ESCORTER (German Edition)
ich dich kennengelernt habe …«
»Ich kenne deine Sicht«, unterbrach er sie. »Und ich habe auch ein gewisses Verständnis für dein Tun. Doch indem du dich verhalten hast wie ein störrisches Kind, hast du uns beide in eine unmögliche Situation gebracht. Das hier ist keine Kleinigkeit, Doreé. Hier geht es um mehr als deine und meine Befindlichkeiten. Viel mehr. Ich glaube, das ist dir nicht wirklich bewusst.«
Er hatte recht, bis auf eine Ausnahme. Was auf dem Spiel stand, war ihr durchaus bewusst, doch sie wollte sich nicht damit auseinandersetzen. Nicht mit untoten Vätern, Schattenwesen, Dämonenclans und schon gar nicht mit dem Ende der Welt, verursacht durch sie selbst. Konnte er das denn nicht verstehen?
Plötzlich verspürte sie wieder diese Schwere in den Beinen, die sie dazu zwang, sich hinzusetzen. Hilflos legte sie die Hände in ihren Schoß. »Warum ich, David? Ich will das alles nicht.«
Nach kurzem Zögern nahm er neben ihr Platz und ergriff ihre Hand. Die erste tröstliche Geste an diesem Tag. »Der Herr wird dich schützen, wenn du ihn darum bittest, Doreé. Du trägst nicht nur Dunkelheit in dir, sondern auch Licht. Das Licht des Boten, vergiss das nicht. Wende dich dem Herrn zu und vertrau auf seine Führung.«
»Ich … ich war nie besonders religiös. Und ich bin nur ein Mädchen. Wie soll ich gegen diese Kräfte bestehen?«
»Das hat nichts mit Religion zu tun oder deinem Geschlecht. Religion ist nur ein Versuch der Menschen, Gottes Willen zu interpretieren.« Sanft strich er mit dem Daumen über ihren Handrücken. »Wenn ich schwach bin, bin ich stark, sagt der Herr.«
Doreé schnaubte und grinste schief. »Dann bin ich aber sehr stark.«
Liebevoll strich er eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Seine Wut war wie weggeblasen. Im Gegenteil – er sah sie so zärtlich an, als wäre nie etwas vorgefallen. »Das bist du, Doreé. Und lass dir von niemandem etwas anderes erzählen.«
* * *
Die Kapustnica stellte sich als ein kräftiger Sauerkrauteintopf mit Kartoffeln und Speck heraus. Sie aßen die Suppe mit Blechlöffeln aus einem Sammelsurium verschiedenster Teller. Dazu reichte Jaromir dunkles Brot, das zwar nicht mehr ganz frisch war, sich aber hervorragend in die Suppe bröseln ließ. Doreé versuchte erfolglos, ein Gespräch in Gang zu bringen. David hing tief über seinem Teller und löffelte schweigend den Eintopf in sich hinein, während Jaromir ihre Fragen meist mit einem unverbindlichen Lächeln beantwortete. Seine Art, unangenehmen Gesprächen auszuweichen, wie Doreé mittlerweile vermutete. Irgendwann gab sie es auf und reihte sich in das allgemeine Schweigen ein. Zum Nachtisch reichte Jaromir ein Glas Borovička, einen Obstbrand aus Wacholderbeeren. Doreé mochte keinen Schnaps, doch sie wollte nicht unhöflich sein und trank ihn. Zudem würde sie der Alkohol vielleicht beruhigen und ihr das Einschlafen erleichtern. Nach dem Essen schaltete Jaromir den Durchlauferhitzer im Badezimmer an, damit sie in der auf verschnörkelten Füßen stehenden Wanne baden konnten.
David ließ ihr den Vortritt. Während sie in dem heißen, süß duftenden Wasser saß, hörte sie David und seinen Vater auf Slowakisch miteinander sprechen. Zu gerne hätte sie gewusst, worüber sie so angeregt diskutierten und was die beiden voneinander trennte. Nach dem Bad fühlte sie sich entspannt und müde. Sie überlegte, woher das rühren mochte, denn nach dem Erlebnis am Morgen hatte sie nicht geglaubt, sich jemals wieder entspannen zu können. Das Haus strahlte eine unerklärliche Sicherheit und Wärme aus.
Nur mit einem Badetuch bekleidet huschte sie über den Flur in das Gästezimmer. Nachdem sie sich T-Shirt und Slip angezogen hatte, legte sie sich ins Bett und wartete. Anscheinend war die Unterredung beendet, denn sie hörte, wie David in das Badezimmer stapfte und das Wasser andrehte. Als er eine halbe Stunde später mit einem Handtuch um die Hüfte geschlungen in das Zimmer kam, war sie gerade in die Betrachtung des schlichten Holzkreuzes vertieft, das über dem Bett hing. Es war riesig und gehörte wohl eher in eine Kirche als in ein Gästezimmer.
»Mein Vater braucht diese Zeichen des Glaubens«, erklärte David mit einem Wink Richtung Kreuz.
»Du nicht?«, fragte Doreé überrascht. Sie hatte geglaubt, dass alle religiösen Menschen zugleich christliche Symbole verehrten.
»Die Gideonisten praktizieren den reinen Glauben. Wir brauchen keine Zeichen und Artefakte. Auch
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