Eskandar: Roman (German Edition)
ist dann geschehen?, fragt Hodjat.
Manche Jungen haben geweint, andere nicht. Der Arzt hat gesagt, der Arme hat Würmer gehabt, die mit dem schmutzigen Wasser in den Bauch der Kinder kommen. Um die anderen Jungen zu beruhigen, habe ich gesagt, dass er ja vielleicht noch lebt, da hat der Hakim gesagt, das Einzige, was an diesem armen Kind noch lebendig ist, sind die Würmer in seinem Bauch.
So viel Elend, so viel Grausamkeit, sagt der Verwalter. Er seufzt, als hätte er sich diese Geschichte nicht schon drei- oder viermal von Eskandar erzählen lassen. Sag, was du dann getan hast, fordert er ihn auf.
Ich bin zu den Händlern im Basar und habe sie gebeten, mir zu helfen, damit ich sauberes Wasser und Brot für die Jungen kaufen kann. Aber mehr als ein Almosen habe ich nicht zusammenbekommen. Viele kommen selbst kaum über die Runden. Der Besitzer des Badehauses hat so wenig Kundschaft, dass er das Badehaus nur am Donnerstag und Freitag einheizt; das Gästehaus ist seit Wochen geschlossen, weil keine Reisenden mehr kommen. Statt mir ein paar Münzen für die armen Jungen zu geben, hat der Stoffdrucker sogar die Gelegenheit genutzt und mich, einen einfachen Diener, um einen Vorschuss gebeten, sagt Eskandar. Und der Bäcker hat mich beschworen, den verehrten Agha-Mobasher zu fragen, ob es in der hauseigenen Backstube des verehrten Palang-Khan nicht Arbeit für ihn gebe.
Ich danke Allah, dass ich alt bin und nicht mehr hinaus auf die Straße muss, sagt der Verwalter und wischt sich Tränen aus den Augen. Ich würde den Bettlern und Hungernden mein letztes Hemd geben.
Wenn man ihnen nichts gibt, sagt Eskandar, werden manche so wütend, dass man sich vor ihnen in Acht nehmen muss. Gestern hat einer einen Stein nach mir geworfen und hat mich lauthals beschimpft, ich soll mich schämen, einem Armen wie ihm nicht zu helfen.
Dabei kenne ich niemanden, der ein derart weiches und gütiges Herz hat, wie unser junger Freund hier, sagt der Verwalter und tätschelt Eskandar den Arm. Erzähl es uns, ermutigt er ihn. Erzähl uns, aus welchem Grund du ohne Jacke hier sitzt.
Das ist doch nicht der Rede wert, winkt Eskandar ab und freut sich, weil der Verwalter darauf besteht, dass er erzählt, wie er seine Jacke losgeworden ist.
Es war an dem Tag, als es so schrecklich windig und kalt gewesen ist, erzählt Eskandar. Ich hatte es eilig, nach Haus zu kommen, als plötzlich ein kleines Mädchen meine Hand mit seiner eiskalten festgehalten hat. Das Kind war fünf oder sechs Jahre alt und hatte nur ein dünnes Baumwollleibchen an und ein Kopftuch. Die Beine, Füße und Arme waren nackt, ihre Haut war blau und rau vor Kälte, und sie zitterte wie eine kleine Trauerweide. Sie ging einfach neben mir her, starrte vor sich hin und sagte kein Wort. Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?, fragt Eskandar. Natürlich habe ich meine Jacke ausgezogen und sie dem Mädchen übergehängt. Ich habe noch überlegte, ob ich das Kind einfach mit hierher bringen soll oder von woher ich zumindest ein Stück Brot oder Schuhe für sie bekommen könnte, da hat sie mich angelächelt und hat Danke gesagt, und dann ist sie einfach in sich zusammengeklappt.
Wieder legt der Verwalter die Hand auf den Arm, beißt sich auf die Lippe und schüttelt den Kopf. Und dann? Was ist dann geschehen?, fragt Hodjat.
Ich habe furchtbare Angst bekommen und habe mich nach Hilfe umgesehen. Aber es ist so kalt gewesen, dass außer einer Bettlerin niemand stehen geblieben ist. Die Frau hat das tote Mädchen eine Weile angestarrt, dann hat sie sich zu ihr heruntergebeugt und hat ihr die Jacke abgenommen und sie sich selber übergezogen. Ich habe so lange bei dem Mädchen gesessen, bis der Totengräber gekommen ist. Als er das Mädchen auf seinen Karren gelegt und sie weggeschoben hat, hat ein Arm schlaff heruntergehangen, und es hat ausgesehen, als würde sie mir zum Abschied zuwinken, murmelt Eskandar.
Ja, wiederholt der Verwalter. Es sind schlimme Zeiten.
Seither verfolgt mich ein schrecklicher Gedanke, sagt Eskandar. Vielleicht ist das Mädchen gar nicht tot und versucht sich mit ihren kalten Händen aus dem Grab zu kratzen.
Du solltest diese schrecklichen Geschichten endlich vergessen, sagt der Mullah, der sich zum Verwalter, Hodjat und Eskandar gesetzt hat. Es ist nicht gut, wenn wir unser Vertrauen in Gott verlieren.
Welches Vertrauen? Welcher Gott? Unschuldige Kinder sterben, schimpft der Verwalter.
Der Mullah hebt seinen Zeigefinger und mahnt, Gott bestraft
Weitere Kostenlose Bücher