Essen kann jeder
Konsumverhaltens. Entsagen Sie dem Biolamm. Lassen Sie Ihr Hybridauto stehen, und buchen Sie an diesem Tag keinen Urlaub im Biosphärenreservat. Hüllen Sie sich stattdessen in einen Lamahaar-Poncho, der so kratzig ist, dass es selbst Ötzi die Haut vom Körper geschabt hätte. Pilgern Sie in klobigen Gesundheitslatschen aus Jutestricken zum nächsten Reformkostladen. Und geißeln Sie einen Tag lang Ihre Magenschleimhäute mit Vollkornbrei, runzeligen Mostäpfeln und Dinkel-Tofu-Frikadellen. Das reinigt Geist und Körper.
UNFAIR!
Ist es nicht unglaublich, wie viel Gutes man heute in einem Supermarkt tun kann? Nicht nur für die Umwelt, auch für die gesamte Menschheit: öko-fairer »AiLaike Handmade Iced Tea Pfirsich-Mango«, »FairFeelsGood-Tee«, »Fairglobe Brauner Rohr- Rohzucker«, »Fair zum Landwirt«-Milch, »Penny Fairtrade«-Rosen – die Liste ist lang … In der Drogerieabteilung finde ich sogar faire Kondome: »Hot Rubber – das weltweit erste Kondom aus fair gehandeltem Latex.« Das erschüttert mich total! Ich hatte beim Sex eigentlich nie das Gefühl, etwas falsch zu machen. Ich meine ethisch: Ich habe noch nie den Akt der Liebe mit schlechtem Gewissen vollzogen. Unter ökologischen Gesichtspunkten ist der CO2-Ausstoß im Vergleich zu einem ruhigen Mittagsschlaf natürlich miserabel. Aber sonst habe ich meinen schmutzigen Trieben mit der unschuldigen Seele eines Neugeborenen gefrönt. Jetzt schäme ich mich, dass ich auf dem Höhepunkt meiner erotischen Fantasien keine Sekunde an die Arbeitsbedingungen in Kautschukplantagen gedacht habe. Doch ab jetzt wird es für mich heißen: Bumsen für eine bessere Welt.
Der Supermarkt ist heute ein zentraler Ort der Weltverbesserung geworden, denn Konsum ist eine der letzten Partizipa tionsmöglichkeiten für den politikverdrossenen Bürger. Hier liegt seine eigentliche Macht: Tagtäglich kaufen wir Waren für etwa eine halbe Milliarde Euro ein. (8 0 % der Kaufentscheidungen werden übrigens von Frauen getroffen. Und hier könnte man als Mann schon wieder fragen: Wie fair ist das denn?) Das heißt, mit unserem Griff ins Regal können wir Konsumenten Unternehmen unterstützen oder wieder fallen lassen. Denn das radikalste Mittel im Kampf gegen globale, soziale, ökologische und ökonomische Verhältnisse ist heute der Boykott. Deutsche lieben den Boykott. Vier Fünftel der Deutschen bezeichneten in einer Studie des Allensbach-Instituts den Kaufboykott als ihr wichtigstes Mittel, Einfluss zu nehmen.
Diese Idee ist nicht neu. Schon im 18. Jahrhundert boykottierten die Engländer Zucker aus Sklavenarbeit. In den Siebzigern des zwanzigsen Jahrhunderts kam die Ächtung von Nestlé – der Konzern wurde wegen seiner aggressiven Vermarktungsstrategien von Säuglingsnahrung (Milchpulver) in Entwicklungsländern heftig kritisiert. In den Achtzigern wurden südafrikanische Früchte geächtet, um die Befürworter der Apartheid zu bekämpfen. In den Neunzigern blieb für Shell wegen der Verklappung auf Bohrinseln an deutschen Autos der Tankdeckel zu. Und in diesem Jahrtausend ist der Damm endgültig gebrochen: Heute wird überall alles kaufboykottiert, was nicht einer korrekten politischen Agenda folgt: Katholiken rufen zum Israel-Warenboykott »Besatzung schmeckt bitter« auf. Griechische Verbraucherschutzorganisationen wollen deutschen Produkten wegen Merkels Europapolitik ihre Kaufkraft verweigern. Moslems rufen zur Ächtung von Coca-Cola angesichts des amerikanischen Wirtschaftsimperialismus auf. Und viele Türken boykottieren immer noch französische Produkte, weil diese Froschfresser eine ziemlich einseitige und parteiische Interpretation des Völkermordes in Armenien pflegen. Das ist natürlich hart. Wir wissen doch, wie gerne der Istanbuler Imbissbudenbesitzer nach einem harten Tag am Drehspieß seine Feierabende mit einem guten Burgunder und einer Terrine Gänseleberpastete beschließt.
Aber manchmal ist es mit dem Boykottieren ganz schön schwer. Wenn mir die italienische Politik gegenüber afrikanischen Flüchtlingen nicht gefällt, ist das kein Problem, dann steige ich von Chianti auf französischen Bordeaux um. Ich bin ja kein Türke. Doch den besten Stör gibt es nun mal im Kaspischen Meer. Und es kann ja wohl nicht sein, dass ich auf meinen Kaviar verzichten muss, nur weil der Iran an der Atombombe bastelt oder der kasachische Staatschef die Menschenrechte ein bisschen freizügiger interpretiert. Deswegen geht heute der Trend vom Boykott zum Buycott.
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