Esswood House
kleinen Jungen, der wie zum Kuß bereit mit ausgebreiteten Armen auf Zehenspitzen stand. Standish bog nach links in den neuen Korridor ab und ging abermals dreißig oder vierzig Schritte durch dieselbe Stille. Wieder folgte eine unvermittelte Biegung nach links, diesmal in einen breiteren, aber nach wie vor gefliesten und nur spärlich beleuchteten Korridor. An der Kreuzung stand auf einem Tisch mit Marmorplatte eine zweite Marmorstatue, diesmal die einer Frau, die mit vor das Gesicht geschlagenen Händen zurückwich. Jetzt konnte Standish gedämpfte Stimmen und leise Geräusche von irgendwo im Haus hören. Schließlich stand er vor einer breiten Doppeltür. Er klopfte leise und bemerkte endlich die klebrigen Spinnweben, die an seinen Manschetten klebten. Er wischte die Spinnweben hastig fort. Niemand reagierte auf sein Klopfen. Standish drehte den Knauf und hörte ein zufriedenstellendes Klick , als der Schloßmechanismus einrastete. Er drückte und die schwere Tür ging vor ihm auf.
Ein Mann mit kantigem, grobschlächtigem Gesicht und dichtem grauen Haar, das ihm in die Stirn fiel, sah ihn blinzelnd an, dann lächelte er und stand auf der anderen Seite des langen Tischs auf, der die Mitte des Zimmers für sich beanspruchte. Gegenüber dem Mann hatte man ein einzelnes Gedeck auf dem glatten weißen Tischtuch angerichtet. Der Mann war mehrere Zentimeter größer als Standish. »Ah, endlich«, sagte er. »Mr. Standish. Wie schön, Sie zu sehen. Ich bin Robert Wall.«
Kaum war Standish vorgetreten, sah er, daß der Tisch so breit war, daß sie sich nicht darüber hinweg die Hände schütteln konnten.
»Ich habe eine Wette mit mir selbst verloren«, sagte Wall. »Sie bleiben dort, ich nehme den Weg um den Tisch herum auf mich.«
Wall lächelte ihm ein wenig trübselig zu und kam um den unteren Teil des Tischs herum, um Standish zu begrüßen. Er trug einen tadellos geschnittenen Anzug aus grauem Tweed, ein dunkelblaues Hemd und eine Krawatte aus rosa Rohseide. Wall entsprach nicht ganz Standishs Erwartungen - er sah wie der Rektor eines Colleges aus, nicht wie der Verwalter einer obskuren literarischen Stiftung. Standish empfand sein hübsches Äußeres als etwas Irrelevantes, fast Hinderliches. Zuerst war Standish verwirrt, daß ihm so ein Gedanke kam; dann fragte er sich, ob ihm nicht Wall selbst diesen merkwürdigen Eindruck vermittelt haben konnte, und zuletzt, als Wall mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam, wurde Standish klar, wie Jean auf den Anblick dieses Mannes reagieren würde.
»Gestatten Sie, daß ich Sie angemessen begrüße«, sagte Wall. Er schüttelte Standish knapp und brüsk die Hand. »Sie haben einen anstrengenden Tag hinter sich, richtig? Möchten Sie gern etwas trinken, bevor wir endlich Gelegenheit haben, Sie abzufüttern? Ein Schluck Whisky? Single Malt? Etwas Besonderes, das verspreche ich Ihnen.«
Standish trank nie Whisky, hörte sich aber zustimmen. Aus der Nähe wirkte Robert Walls Gesicht fast staubig vor Erschöpfung. Winzige Fältchen, Rasiermesserschnitten gleich, verliefen um Augen- und Mundwinkel. Wall grinste Standish an und drehte sich zu einer Vorratskammer um, die hinter einer Tür am unteren Ende des Tischs lag. Standish betrachtete den Platz, der für ihn vorbereitet worden war, und folgte Wall dann langsam. Größe und Pracht des Eßzimmers stimulierten und bedrückten ihn. Portraits toter Seneschals schauten stirnrunzelnd von den Wänden, und wohin Standish den Blick auch schweifen ließ, sah er unerwartete detaillierte Ornamente: Stuckschnörkel an der Decke, das Muster des Parkettbodens um den Rand des prunkvollen Orientteppichs herum, Gipsrosetten um die Halterungen der Lampen an den Wänden, den eindrucksvollen Lüster, der über dem Tisch hing. Er glaubte, daß das Besteck um seinen Teller, der Teller selbst und der Rand des Weinglases daneben aus Gold bestanden. Ein goldener Teller! Goldene Gabel, goldener Löffel, goldenes Messer! Das Beiläufige dieser Opulenz beunruhigte ihn, als wäre er aus Versehen aus der normalen in die Welt der Märchen geraten. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er jemals allein in dem Eßzimmer Platz nehmen würde.
Und so trottete er hinter Robert Wall her wie ein Kind, das nicht allein gelassen werden möchte.
Hinter den Glastüren der Geschirrschränke in der Speisekammer standen die goldenen Teller reihenweise, in dem Schrank am anderen Ende ein Arsenal von Flaschen. Eine schmale Treppe wie die hinter Standishs Zimmer führte
Weitere Kostenlose Bücher