Esswood House
haben mußte: 1914 war Wall ungefähr zehn gewesen, daher mußte er jetzt über achtzig Jahre alt sein. Er sah wie Mitte Fünfzig aus.
»Esswood ist gut zu Ihnen gewesen«, sagte er.
Wall lächelte bedächtig und nickte zustimmend. »Esswood und ich versuchen, gut zueinander zu sein. Ich glaube, es wird auch zu Ihnen gut sein, Mr. Standish. Wir waren alle sehr glücklich, als wir Ihren Antrag erhielten. Bis dahin sah es aus, als gäbe es dieses Jahr keinen Esswood-Stipendiaten.«
»Ich kann unmöglich der einzige Anwärter gewesen sein!«
»Nein, wir hatten etwa die übliche Anzahl Bewerbungen.«
Standish zog neugierig die Brauen hoch, und Wall weihte ihn ein. »Etwas über sechshundert. Sechshundertneununddreißig, um genau zu sein.«
»Und nur meiner wurde in Erwägung gezogen?«
»Oh, Sie hatten einige Konkurrenten«, sagte Wall. »Wir haben stets einen Zeitraum von mehreren Monaten, bis alles geregelt ist. Wir lassen eine, wie wir es sehen, mehr als nur übliche Sorgfalt walten.« Er lächelte wieder dieses entspannte Lächeln und sah gar nicht mehr wie der Sohn eines Wildhüters aus. »Wenn Sie fertig sind, können wir einen Blick in die Bibliothek werfen. Danach werde ich Ihnen die Ruhe gönnen, die Sie sicher brauchen. Es sei denn, Sie haben Fragen?«
Standish sah auf seinen Teller. Der größte Teil des vorzüglichen Essens schien verschwunden zu sein. »Ich frage mich die ganze Zeit, wann ich Gelegenheit haben werde, die Seneschals kennenzulernen.«
Wall stand auf. »Ihre Gesundheit ist angegriffen.«
»Die Frau, die mich begrüßte, sagte, daß Mrs. Seneschal -«
Wieder brachte Wall ihn mit einem Blick zum Schweigen, der ihm sagte, dieses Thema nicht weiter zu verfolgen.
»Kümmern wir uns um die widerspenstige Tür, ja?«
Standish stand auf. Einen Augenblick wurde ihm schwindelig und er mußte sich an der Stuhllehne festhalten. Einige Worte, die Robert Wall an ihn richtete, verschwanden wie alles andere in grauen Schleiern, dann wurde sein Kopf klar und sein Sehvermögen kehrte zurück. »Entschuldigung.«
»... sie nicht richtig verstanden«, sagte Wall gerade. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Nur ein kleiner Schwindelanfall. Tut mir leid, ich habe nicht mitbekommen, was Sie gesagt haben.«
Wall machte die Tür auf, durch die Standish das Eßzimmer betreten hatte. »Ich sagte nur, offenbar haben Sie sie nicht richtig verstanden. Es gibt keine Mrs. Seneschal.«
Standish ging an Wall vorbei; die tiefen, Narben gleichen Furchen in seinem Gesicht wurden scharf umrissen.
»Es heißt Miss Seneschal. Sie und Mr. Seneschal sind Geschwister. Ediths zwei überlebende Kinder.«
»Oh, ich war sicher -«
»Ein verzeihlicher Fehler für einen erschöpften Mann.«
Wall zeigte die Länge des gefliesten Korridors hinab. »Im Gegensatz zu den meisten unserer Gäste kennen Sie diesen verschwiegenen Weg schon an Ihrem ersten Abend, richtig?« Er setzte sich in die Richtung in Bewegung, von wo Standish gekommen war. »Noch ein Beweis dafür, daß wir mit Ihnen eine gute Wahl getroffen haben.«
Sie gingen ein paar Schritte weiter; Wall ging wie ein junger, durchtrainierter Mann.
»Sie sind verheiratet, Mr. Standish, richtig?«
Bei der Statue der erschrockenen Frau bogen sie nach rechts ab.
»Ja, richtig.«
»Kinder?«
»Noch nicht.« Als Wall ihn fragend ansah, fügte er hinzu: »Jean soll in zwei Monaten niederkommen. Inzwischen in sieben Wochen.«
»Dann sollten wir Sie bis dahin sicher und unversehrt nach Hause bringen, nicht wahr?«
Standish nickte vage.
Sie bogen wieder rechts ab, an dem Jungen auf Zehenspitzen vorbei.
»Wie auch immer, Sie haben den weiten Weg auf sich genommen, um das zu sehen. Versuchen wir unser Glück bei der rätselhaften Tür.«
Sie standen vor der hohen, schmalen Holztür. Walls Gesicht war ein Schatten unter seinem ordentlich stattlichen grauen Haar - ganz gegen seinen Willen stellte Standish sich Jean vor, wie sie sich in Walls Arme schmiegte und das Gesicht heftig an seiner Brust rieb. Bei attraktiven Männern machte Jean nicht selten eine Närrin aus sich.
»Scheint normal zu funktionieren.« Wall wandte sein schattenhaftes Gesicht Standish zu. »Vielleicht haben Sie den Knauf auf die falsche Seite gedreht?«
Er hatte den Knauf nicht in die falsche Richtung gedreht. Einen Augenblick war es, als wäre Jean, oder ihr Schatten, Zeugin dieser Demütigung geworden, und Standish spürte, wie sich eine heftige Röte einem Ausschlag gleich über seinem Gesicht
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