Esswood House
Schankwirt von The Duellists.
»Tut mir leid, wenn das eine ungehörige Frage war.«
»Mir tut es leid, wenn Ihnen meine Antwort nicht gefallen hat. Aber wenn Sie etwas anderes wissen wollen, schießen Sie los. Sie haben drei Fragen frei.«
»Also, ich bin wohl neugierig, was Isobel betrifft. Ich meine, ich weiß, sie starb hier, und ich habe stets vermutet, daß sie eine Krankheit hatte. Erinnern Sie sich daran?«
Wall hielt weiter die Tür auf und sah auf Standish hinab. Seine Miene hatte sich in keinster Weise verändert.
»Hatte sie die Grippe?«
»Ist das Ihre zweite Frage?«
»Ich weiß, daß zu der Zeit Grippe-Epidemien grassierten ... Erinnern Sie sich überhaupt an sie? Ich habe nie ein Bild von Isobel gesehen.«
»Das ist Ihre dritte Frage. Natürlich erinnere ich mich an Isobel. Es war ein großer Verlust für uns alle, als sie starb. Jeder hier war geradezu vernarrt in sie.« Er winkte Standish durch die Tür und folgte ihm in die große Diele hinaus. »Sie starb im Kindbett, um Ihre eigentliche Frage zu beantworten. Ich bin überrascht, daß Sie das nicht wußten.«
»Ich wußte nicht einmal, daß sie ein Kind hatte«, sagte Standish.
»Das Kind starb ebenfalls.« Wall lächelte und entfernte sich. »Wissen Sie noch, wie man zu den Springbrunnenzimmern kommt?«
Als Standish das obere Ende der breiten Treppe erreichte, drehte er sich um und schaute zu Robert Wall hinunter, aber der gesamte erste Stock von Esswood war dunkel. Er hörte unter sich eine Frau auflachen, als wäre das Lachen wie Rauch die Treppe hochgestiegen.
Im Schlafzimmer zog er sich aus und stellte zu seiner Freude fest, daß das Laken angenehm kühl und das Bett so hart war, wie er es gern hatte. Er glaubte zu hören, wie das Licht in der inneren Galerie ausgeknipst wurde. In der Ferne fiel leise eine Tür ins Schloß.
KAPITEL FÜNF
Standish und eine Anzahl weiterer Gefangener wurden in einer großen Holzhütte mit einem Dielenboden und rauhen Holzwänden festgehalten. Bewaffnete Wachen in braunen Uniformen fläzten sich an den Wänden, beobachteten müßig die Häftlinge und unterhielten sich mit leisen, unverständlichen Stimmen miteinander. An einem Ende des riesigen Raums aus Holz befand sich eine niedrige Plattform, wo ein Mann, dessen graues Haar fast bis auf seinen gewehrkugelähnlichen Schädel rasiert war, hinter einem Schreibtisch saß. Ganze Berge von Blättern lagen auf der Schreibtischplatte; der Mann studierte ein Dokument nach dem anderen, bevor er sie von einem Stapel auf einen anderen umschichtete. Er trug einen ausgebeulten grauen Anzug und eine breite, grellbunte Krawatte; die Spitzen seines Hemdkragens waren nach oben gewölbt. Er sah so gelangweilt drein wie die uniformierten Wachen. Die Gesichter all dieser Männer, der Wachen und des Beamten hinter dem Schreibtisch, waren breit, feist, maskulin, vom Alkohol gezeichnet und an Brutalität und Tod gewöhnt. Durch Fenster, die man in die Seitenwände des Hauses gefräst hatte, sah Standish Schnee konstant auf eine weiße Landschaft fallen. In unregelmäßigen Abständen ging ein Mann, der ein Gewehr trug, in einen dunklen Mantel und Pelzmütze eingemummt war und zwei riesige Hunde mit langem Fell an der Leine führte, an den Fenstern vorbei. Alle Männer lebten in friedlicher Eintracht mit der Kälte und dem ewigen Schnee. Sie lebten in friedlicher Eintracht mit allem. Es herrschte eine Atmosphäre gemächlichen bürokratischen Friedens.
Standish stand mit den anderen Gefangenen furchtsam in der Mitte des Raums. Alle außer ihm trugen farblose Wollkleidung, die an Pyjamas erinnerte. Standish wußte, daß man auch ihm bald Jackett, Hemd, Krawatte, Hose und Schuhe abnehmen und ihm so einen Wollpyjama anziehen würde. Eine Flucht war nicht möglich. Selbst wenn er nach draußen käme und den Wächtern und Hunden ausweichen könnte, würde er erfrieren.
Die Schultern seiner Mitgefangenen waren gebeugt, ihre Köpfe kahlgeschoren, ihre Gesichter hohlwangig. Sie hatten sich mit dem Tod abgefunden; in gewisser Weise waren sie schon tot, denn nichts konnte sie rühren oder aufrütteln, nichts konnte sie aus ihrer Apathie reißen.
Standish erlebte das schrecklichste Grauen seines Lebens.
Der Mann am Schreibtisch legte gemäß einem nur ihm ersichtlichen Plan die Reihenfolge fest, in der Standish und dessen Mitgefangene hingerichtet werden sollten. Die Möglichkeit einer Begnadigung gab es nicht. Früher oder später würde diese gelangweilte, brutale
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