Esther Friesner
darauf. Einfach nur abzuwarten, bis Zoltan fort war, um dann wieder herauszukommen und …
Und dann was? Nach Hause zurückzukehren, vielleicht?
Dort würde er mich ja wohl als erstes suchen. Und er würde nicht der einzige sein. Es gab schließlich auch noch andere Leute, die wußten, was ich besaß, und die es nur zu gern selbst gehabt hätten: Leute wie Meister Gurf, Meister Benidorm, Edelfrau Inivria. Vielleicht auch noch mehr? Wahrscheinlich. Jeder Zauberer, der an Meister Thengors Sterbebett gestanden hatte, wußte schließlich, daß der alte Mann den gehorteten Magikschatz eines ganzen Lebens zu verteilen hatte, und sie würden sich mit Sicherheit fragen, wo das Zeug hingekommen sein mochte. Ich bezweifelte, daß sie allzu lange dazu brauchen würden, um es herauszubekommen, und dann wäre es lediglich eine Frage, wer mich als erster aufspürte und wie weh er mir tun würde, bevor er mich wieder in Frieden ließ.
Sofern dann überhaupt noch etwas von mir übrig sein sollte, das man in Frieden lassen konnte.
Plötzlich sah es gefährlich danach aus, als ob ich mich wohl für den Rest meines Lebens von Frohbeeren würde ernähren müssen.
»Hervorragend!« knurrte ich den Eineinhalbmond an.
»Dabei mag ich Frohbeeren gar nicht!«
Ich schritt die schmalen Wege des Labyrinths entlang und dachte angestrengt nach. Um mich herum ragten überall die Frohbeerensträucher in die Höhe. An manchen Stellen trafen sich ihre dornigen Äste und verschlangen sich zu einem Dach, das fast das gesamte Mondlicht ausschloss. Ich stieß mit dem Fuß gegen irgend etwas, das im Weg lag, und verpaßte ihm einen bösartigen Tritt. Es rollte davon, ich folgte und befleißigte mich dabei eines Tritts nach dem anderen, während ich mein Unglück verfluchte.
Ich war so sehr darin vertieft, wie ich nach Hause zurückfinden könnte, ohne gleich von sämtlichen magikhungrigen Zauberern Orbix’
gehetzt zu werden, daß ich überhaupt nicht darauf achtete, wo ich hinging. Rechtsbiegung, Linksbiegung, dann mal wieder aus einer Sackgasse heraus, mir war alles gleich. Langsam dünnte das Geäst über mir aus und radierte die scheckigen Schatten Stück um Stück weg.
Ich verpasste meinem improvisierten Ball einen letzten Stoß, bis er voll ins klare Mondlicht hinausrollte.
Polternd kam der Totenschädel zum Liegen und grinste mich von unten an.
Ich schätze, ich war wohl nicht der einzige, der keine Frohbeeren mochte.
KAPITEL 6
Der Halbmond war schon fast hinter den Wipfeln der Frohbeerensträucher verschwunden, und der Vollmond folgte ihm gerade, als der Schädel sagte: »Hör auf zu heulen.«
Ich hob den Kopf nicht von meinen Knien. »Heuljagarnich«, murmelte ich.
Der Schädel glaubte mir nicht; das merkte ich sogar ohne hinzusehen. Ich hätte eigentlich gedacht, daß man eine Zunge brauchen würde, um ein derartiges Geräusch von sich zu geben. »NA klar heulst du nicht. Und ich bin ein Erdferkel. Schön, wie du willst, du heulst also nicht. Und worüber heulst du nicht?«
»Ich will nach Hause«, erwiderte ich. Inzwischen war ich davon überzeugt, daß ich aus schierer Erschöpfung eingeschlafen sein mußte und dieses Gespräch nur Teil eines Alptraums sein konnte. Was sollte schon passieren, wenn man sich im Traum mit einem Todenschädel unterhielt?
»Schön, dann sind wir ja schon zu zweit, Einstein.«
»Rattenklopper«, berichtigte ich ihn. Man hätte doch eigentlich annehmen sollen, daß ein Schädel einen im eigenen Traum wenigstens beim richtigen Namen nennen würde. Aber heutzutage konnte man sich ja auf überhaupt nichts mehr verlassen. »Nenn mich Rattenklopper.«
Der Schädel gab ein angewidertes Geräusch von sich.
»Wie ich dich am liebsten nennen würde, das taugt nicht für Damenohren. Hm. Andererseits sind hier ja überhaupt keine Damen.«
Dann nannte er mich etwas, das mir das Blut ins Gesicht trieb und mich vor Schreck den Kopf hochreißen ließ.
»Jetzt hör mir mal gut zu, das hier ist mein Traum, und wenn ich mir irgend etwas nicht gefallen lasse, egal ob von einem Toten oder einem Lebenden, dann, daß man mich …!«
Die Worte starben einen der schnelleren Tode. Ich schätze, sie wurden irgendwie enthauptet oder so. Das Mondlicht war schon fast erloschen, aber es war noch genug davon da, um etwas erkennen zu lassen. Und was ich erkannte, das war der alte Totenschädel, und mitten drauf dieselbe unirdische Ratte, die ich die ganze Strecke von Velmas Küche bis zu Meister Thengors Schlafgemach und
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