Eternal - Die Vampire von Clare Point
das Tor in der Mauer, die sie vor Jahren als Schutzwall um sich herum errichtet hatte. »Reicht das denn nicht?« Fia schob die Katze von ihrem Schoß und stand auf. »Grüß Dad von mir. Ich rufe euch in ein paar Tagen an.«
»Versprochen?« Das war das Maximum an Zärtlichkeit, das ihre Mutter aufzubringen wusste.
»Versprochen.«
»Sie hätten mich sofort anrufen sollen«, sagte Dr. Kettleman.
Fia zuckte mit den Achseln und rutschte ans Ende der Couch. »Ich hatte doch schon diesen Termin. Ich dachte, ein Tag hin oder her würde keine Rolle spielen.«
Da Kettleman nicht antwortete, fühlte sich Fia genötigt, über den Couchtisch zu ihr hinüberzusehen. Sie saßen in der »Lounge«, wie die Psychiaterin jenen Bereich ihres Sprechzimmers nannte, der in einem Alkoven abseits des Schreibtischs und der Regale untergebracht war. Es sollte ein Ort sein, an dem sich ihre Patienten wie zu Hause fühlen und frei sprechen konnten. Frei fühlen. Fia überlegte, ob sie die einzige von Kettlemans Patienten war, die sich in ihrer Lounge viel wohler fühlte als in jedem Wohnzimmer, das ihre Familie je bewohnt hatte.
Dr. Kettleman wartete darauf, dass Fia das Gespräch eröffnete. Es war eine ärgerliche, aber effektive Technik. Der Duft ihres Chanel-Parfums waberte durch den Raum.
Fia beobachtete die Psychiaterin einen Moment lang. Sie trug einen konservativen, schulterlangen dunklen Bob und dazu einen grauen Hosenanzug. Eine Brille mit Drahtgestell, während die meisten Leute längst Kontaktlinsen bevorzugten.
»Wenn Sie mich vor einer Woche gefragt hätten, hätte ich gesagt, dass ich unter keinen Umständen wieder rückfällig werden würde«, hörte Fia sich selbst sagen. »Ich habe mich so wacker geschlagen. Es ist Monate her, dass …«
»Und wie hat er sich angefühlt?«, unterbrach die Psychiaterin, ohne Fia aus den Augen zu lassen. »Dieser Rückfall?«
Fia dachte einen Moment nach. Das Sprechzimmer war überheizt, und sie hätte gern ihren Blazer ausgezogen, aber die Psychiaterin trug ebenfalls einen, und sie wollte es nicht so aussehen lassen, als werde ihr heiß. »Ich habe mich natürlich wie eine Versagerin gefühlt«, entgegnete sie. »Wie die Nullnummer, von der mein Vater immer wusste, dass sie in mir steckt.«
»Ein hartes Urteil«, stellte Kettleman fest.
Fia studierte die Augenbrauen der Frau. Sie hatten eine schön geschwungene Form. Fia fragte sich, ob sie sie zupfte.
»Fia, haben Sie das Gefühl, dass es eher ein kleiner Rückschlag war oder dass Sie in die Abhängigkeit zurückrutschen?«
Fia dachte an den stechenden, scharfen Blutgeschmack des Anzugsmannes, an den unglaublichen Kick, den er ihr verschafft hatte. Sie vermutete, dass sein Blut sie genauso berauschte wie jede beliebige Modedroge auf dem Schwarzmarkt. »Ich werde nicht in meine alten Gewohnheiten zurückfallen, wenn es das ist, was Sie meinen«, sagte sie zu Kettleman. »Ich habe zu hart daran gearbeitet, so weit zu kommen, als dass ich das Risiko eingehen würde, all das wieder aufs Spiel zu setzen.« Sie lehnte sich in die karamellfarbene Couch zurück. »Das war ein kleiner Rückschlag. Nicht mehr.«
Dr. Kettleman schwieg wieder.
Schweigen konnte eine Frau umbringen.
Konnte den Wunsch in ihr wecken, sich umzubringen.
Selbstmord?
Fia hätte beinahe laut gelacht. Wenn den Kahills von Gott diese Möglichkeit gegönnt gewesen wäre, hätten sie sich dann nicht alle schon vor tausend Jahren umgebracht? Dies war eine der Konventionen der
mallachd,
die sie so grausam machten. Nicht nur, dass es einem Menschen fast unmöglich war, dem Leben eines Clanmitglieds ein Ende zu setzen, sie konnten es auch selbst nicht. An guten Tagen wusste Fia, dass dies auch ein göttlicher Segen sein konnte.
»Erzählen Sie mir von dem Abend mit Joseph«, sagte Kettleman mit ihrer Psychiaterinnenstimme.
»Ich habe es Ihnen doch schon erzählt. Er rief an. Wir haben uns getroffen, etwas getrunken, und ich bin wieder gegangen.«
»Und was wollte er?«
Fias Blick wanderte zu den Diplomen an der Wand hinter Kettlemans Kopf. Studiendiplom von der Temple-Universität. Medizinurkunde von Johns Hopkins. Die Frau lag nicht auf der faulen Haut.
»Ich weiß nicht, was er wollte«, erwiderte Fia. Ihr eigenes Spiegelbild in einem der Rahmen bereitete ihr Unbehagen. Sie musste dringend zum Friseur. Aus ihrem schulterlangen rostroten Haar wuchs allmählich die rasiermesserscharfe Kante heraus, die sie so mochte. »Ich bin nicht lange genug geblieben,
Weitere Kostenlose Bücher