Etwas ist faul
zu einem mannshohen Spiegel an der Wand.
»Sehen Sie?«, rief sie entzückt. »Das perfekte Ebenbild.«
Schon beim ersten Anblick der Großherzogin Pauline hatte Jane angefangen zu begreifen. Die Großherzogin war eine junge Frau, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Jane. Sie hatte Haare vom gleichen Blondton wie Jane und die gleiche schlanke Figur. Sie war lediglich eine Spur größer. Jetzt, da sie beide nebeneinander standen, war die Ähnlichkeit wirklich frappant.
Die Großherzogin klatschte in die Hände. Sie schien eine außergewöhnlich heitere junge Frau zu sein.
»Es könnte nicht besser sein«, rief sie aus. »Sie müssen Feodor Alexandrowitsch in meinem Namen beglückwünschen, Anna. Er hat wirklich großartige Arbeit geleistet.«
»Bisher, Madame«, entgegnete die Prinzessin mit gedämpfter Stimme, »weiß diese junge Frau noch nicht, was von ihr verlangt wird.«
»Stimmt.« Die Großherzogin beruhigte sich ein wenig. »Das habe ich ganz vergessen. Nun, ich werde sie aufklären. Lassen Sie uns allein, Anna Michaelowna.«
»Aber, Madame – «
»Lassen Sie uns allein, habe ich gesagt.«
Die Großherzogin stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Mit merklichem Widerstreben verließ Anna Michaelowna den Raum. Die Großherzogin setzte sich und bedeutete Jane, das Gleiche zu tun.
»Sie sind schon lästig, diese alten Frauen«, bemerkte Pauline. »Aber sie gehören nun einmal dazu. Anna Michaelowna ist noch besser als die meisten anderen. Nun, Miss ach ja, Miss Jane Cleveland. Der Name gefällt mir. Sie übrigens auch. Sie sind sympathisch. Ich merke sofort, ob Menschen sympathisch sind.«
»Das ist sehr klug von Ihnen, Madame.« Jane tat zum ersten Mal den Mund auf.
»Ich bin klug«, gab Pauline ruhig zurück. »So, und nun will ich Ihnen alles erklären. Zwar gibt es da nicht viel zu erklären. Sie kennen die Geschichte von Ostrowa. Praktisch meine ganze Familie ist tot – von den Kommunisten ausgerottet worden. Ich bin wahrscheinlich die Letzte meiner Linie. Und ich bin eine Frau, wir haben keine weibliche Erbfolge. Man möchte daher meinen, sie würden mich in Ruhe lassen. Aber nein, wohin ich gehe, werden Attentatsversuche gegen mich unternommen. Absurd, nicht wahr? Diesen Leuten geht eben jeder Sinn für das rechte Maß ab.«
»Ich verstehe«, murmelte Jane in dem unbestimmten Gefühl, es werde eine Antwort von ihr erwartet.
»Die meiste Zeit lebe ich in strenger Zurückgezogenheit – wo ich Vorkehrungen für meinen Schutz treffen kann. Aber hin und wieder muss ich an öffentlichen Feierlichkeiten teilnehmen. Während meines Aufenthalts hier zum Beispiel muss ich mehrere halböffentliche Veranstaltungen besuchen. Und ebenso in Paris, auf meinem Rückweg. Ich habe nämlich einen Besitz in Ungarn, wissen Sie. Man kann dort wunderbar Sport treiben.«
»Tatsächlich?«, sagte Jane.
»Ja, fabelhaft. Ich liebe Sport. Außerdem – eigentlich dürfte ich Ihnen das gar nicht erzählen, aber ich tu’s doch, weil Sie so ein sympathisches Gesicht haben –, also, es werden dort gewisse Vorbereitungen getroffen in aller Stille, verstehen Sie. Kurz gesagt, es ist sehr wichtig, dass ich während der nächsten zwei Wochen nicht umgebracht werde.«
»Aber bestimmt ist die Polizei…«, begann Jane.
»Die Polizei? O ja, die ist sicherlich ausgezeichnet. Und wir selbst haben auch unsere Spione. Es ist gut möglich, dass ich vor einem Attentatsversuch gewarnt werde. Aber vielleicht eben auch nicht.«
Sie zuckte die Achseln.
»Langsam verstehe ich«, sagte Jane bedächtig. »Sie wünschen, dass ich Ihren Platz einnehme?«
»Nur bei bestimmten Gelegenheiten«, sprudelte die Großherzogin hervor. »Sie müssten sich irgendwo zu meiner Verfügung halten, verstehen Sie? Ich werde Sie während der nächsten vierzehn Tage vielleicht zweimal, dreimal oder auch viermal brauchen. Das wird jedes Mal anlässlich irgendeiner öffentlichen Veranstaltung sein. Bei intimen Geselligkeiten jeder Art können Sie mich natürlich nicht vertreten.«
»Natürlich nicht«, bestätigte Jane.
»Sie eignen sich wirklich ausgezeichnet für diese Aufgabe. Es war ein kluger Einfall von Feodor Alexandrowitsch, diese Annonce, finden Sie nicht?«
»Und angenommen, ich werde ermordet?«
Die Großherzogin hob die Schultern.
»Dieses Risiko besteht natürlich, aber laut unseren eigenen geheimen Informationen möchte man mich entführen, nicht sofort umbringen. Aber ich will ganz ehrlich sein – es besteht natürlich immer die
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