Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman

Titel: Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Petery
Vom Netzwerk:
Anita, du Dreckskind, du dummer Versager, nichts kannst du, du hast alles verdient, du hast es verdient, verdammt nochmal, zu sterben, verreck doch gleich hier, Hure. Die Stimme. Der Sog. Wieder da. Wieder laut. Zu laut. Zu Hause war es dann ganz still. Meine Mutter hat den Fisch gebraten. Ohne das Radio. Nur zischendes Bratfett. Ich habe den Tisch gedeckt. Teller, Teller. Gabel, Gabel. Messer, Messer. Weinglas, Weinglas. Rotwein. Nicht den halbleeren von meiner Mutter. Sondern eine neue Flasche. Dann habe ich mich einfach hingesetzt und habe versucht, die Sterne, die auf dem Tischtuch verteilt lagen, nicht auseinanderzupulen, eine Ecke aus der Faltung und die nächste, und das Papier rutscht, nein. Auch daran herumreißen darf ich nicht. Nicht an einer Goldkante ziehen, sanfte Gewalt, bis das Papier unter meiner grausamen Lautgier nachgibt und zerreißt. Nein. Nur dasitzen.
    Es ist schon lange dunkel draußen. Ist mir gar nicht aufgefallen. War es dunkel, als ich zum Treffen mit Melanie gegangen bin? Als ich auf sie gewartet habe? Als sie da war? Oder hat sie den Raum erhellt? Ich weiß es nicht mehr, es ist schon Vergangenheit. Stört es mich noch, wenn es so gewesen wäre, wenn sie wahr wäre, diese Vision eines Nachmittags? Eines Untergangs, meines Untergangs, und eines Aufstiegs, ihres Aufstiegs? Das darf es nicht. Es darf mich nicht stören, nicht aufregen, nur ruhig.
    Ich werde die Beleuchtung am Weihnachtsbaum anmachen. Ja, wir haben einen Tannenbaum, meine Mutter hat ihn heute in aller Frühe vom Balkon hereingeholt und mit dem Schmuck meiner Großmutter dekoriert. Während ich
fort war. Ich bin froh, dass ich nicht hier war, ihr nicht helfen musste. Ich habe noch nie einen Baum geschmückt. Das ist Elternsache. Ich warte, bis alles fertig ist, dann schüttelt mein Vater im Wohnzimmer ein Glöckchen, ich darf eintreten, und dann ist Weihnachten. Ich durfte mich immer als Erste auf ein Geschenk stürzen, nach einem musste ich aber warten, auch wenn ich einen ganzen Berg von Geschenken auf meiner Seite des Baumes sah, ich musste warten und durfte nicht zu intensiv hinüberspitzen, das war »ungerecht«. Gerecht war es, wenn ich meinem Vater zusah, wie er fürchterlich lange an der Schleife werkelte, wenn ich mit anhören musste, wie schön doch allein schon das Einwickelpapier sei, wenn ich fast wahnsinnig wurde, weil ich nicht verstand, wie irgendjemand so lange auspacken konnte. Das Wichtige war doch drinnen. Da wollte man doch dran. Aber vielleicht wusste mein Vater einfach, wie sehr er mich quälte mit dieser Prozedur, dieser aufgesetzten Zeremonie. Oder er wollte mir eine Lektion erteilen, mich geduldiger machen, braver, besser, perfekter. Jetzt ist er fort, und ich habe umsonst gelernt zu warten. Heute wird Weihnachten sehr schnell vorbei sein, denke ich da am Tisch, als ich den Baum sehe. Umso besser. Es wird sowieso kein schönes Weihnachten. Oder? Wenn meine Mutter sich doch so bemüht. Ich bin nicht besonders gespannt, was sie mir schenkt. Auch nicht, ob ihr mein Geschenk gefällt. Wieso sollte es? Ich kann doch ohnehin nicht schenken. Ich kann nicht weihnachten. Ich bin so dumm.
    Meine Mutter trägt den fertigen Fisch auf einer neu gekauften sternförmigen Platte herein, ich kann mir nicht helfen, ihr Anblick ist für mich kitschig und falsch. Sie sieht so mütterlich aus. Als ob sie das wäre: mütterlich. Na gut, vielleicht ist sie es oder versucht zumindest, es zu sein. Aber
wieso lacht sie so künstlich, wirft sich zu leicht auf den Stuhl am Esstisch mir gegenüber, zu betont fröhlich, zu weihnachtlich. Geweiht ist der Tag doch eh nicht, nicht für uns, wieso denn auch? Dem Tode geweiht, der Ausdruck passt doch am ehesten, oder? Todweihnachten. Wir essen. Schweigend. Bis auf diese kleinen Aussprüche, die meine Mutter versucht dazwischenzustreuen, wie um die Stille zu würzen. »Mmh, Anni, das schmeckt nach Weihnachten, was?« oder »Das ist mal ein richtiges Weihnachten!« Was war denn falsch an den Weihnachten davor? Wir wissen doch beide, dass damals die Feiern richtiger waren als alle, die jetzt noch kommen können. Heute ist alles falsch. Sogar der Fisch schmeckt nach Huhn, meine Mutter hat ihn mit Estragon gebraten, und das ist für mich ein Hühnergewürz. Ich sage es ihr. Danach gurrt sie nicht mehr herum, sondern stochert wie ich. Ich will, dass es aufhört. Sie nicht. Sie versucht schon wieder, Stimmung zu machen, oder wie auch immer sie das nennen will. Sie schenkt sich selbst und

Weitere Kostenlose Bücher