Eure Kraft und meine Herrlichkeit - Roman
mir großzügig Rotwein ein. Soll ich ihr sagen, dass ich nichts trinken will, weil ich …
Nein. Was macht es schon? Ich bin heute nicht mehr in der Lage, schon wieder Nein zu Alk zu sagen. Ich habe es doch gesehen – wer trinkt, hat mehr Spaß.
Hätte ich niemals getrunken, wäre ich nie schwanger geworden.
Hätte ich niemals getrunken, hätte ich Melanie nie kennengelernt.
Hätte ich niemals getrunken, hätte ich meinen Vater nie enttäuscht.
Aber ich habe getrunken. Darauf lass uns anstoßen, Mama!
»Auf mein großes Mädchen«, sagt meine Mutter mit erhobenem Glas. Sie rührt mich. »Mensch, Mama, was machen
wir auch für Sachen«, entgegne ich, und wir lassen die Gläser aneinanderklirren. Wenn sie nur wüsste.
Wir nehmen beide einen tiefen Schluck, meine Mutter schließt ihre Augen und gurgelt leicht. Ich mache es ihr nach und muss lachen. Meine Mutter öffnet ihre Augen und schaut mich mit diesem bedeutungsschweren, leicht melancholischen Ausdruck an.
»Du hast dich ganz schön verändert, Anni. Ich weiß noch, letztes Jahr …«
Ihre Stimme hängt eine Weile zwischen uns, dann verraucht sie. Sie trinkt noch einen Schluck. »Du dich auch, Mama.«
Sie versucht zu lachen, aber es klingt hart. Sie weiß, dass sie sich verändert hat. Sie hatte das nicht geplant, aber es ist passiert, ob sie wollte oder nicht. Ich esse noch ein wenig Fisch, sie trinkt nur noch. Gemeinsam leeren wir die Flasche, bis das Licht vom Baum durch das Glas dringt und nur noch für jede ein Schluck übrig ist. Die Teller und das Besteck stellen wir in die Spüle, ich drehe den Hahn auf und lasse kaltes Wasser über das erkaltende Fett laufen, in einzelnen Perlen bleibt es hängen. Auch auf meinen Händen bilden sich Wasserperlen, sie sind ebenso fettig und verschmiert wie die Teller, aber ich hab keine Lust, sie zu waschen. Ich bin müde geworden, von der Wärme und dem Fisch und dem schummrigen Licht.
Wir wollen später noch in die Messe gehen, auch so wie früher, so wie immer, nur eben nicht, weil dieses Jahr alles anders ist. Weil man nicht so tun kann, als ob. Meine Mutter will so tun, als ob. Als ob ich noch ganz klein wäre, als ob mein Vater noch da wäre, als ob sie eine ganz normale, glückliche Frau wäre, die mit ihrer Familie Weihnachten feiert.
»Willst du nicht draußen warten, während ich deine Geschenke aus dem Versteck hole?«
Warum denn? Was soll mich denn noch überraschen? Ich habe den Baum schon gesehen, und ich glaube auch nicht mehr daran, dass das Christkind die Geschenke bringt. Ich muss nicht mehr draußen warten.
Ich tue es für sie. Ich hole mein Geschenk für sie aus meinem Zimmer, natürlich hatte ich es unter das Bett gelegt, wenn sie da hinschauen würde, wäre ihr Geschenk sicher nicht das, was sie am meisten beschäftigen würde, die Wodkaflaschen und die Schachtel von dem Test wären wohl starke Konkurrenten. Für einen Moment denke ich, ich könnte doch noch schnell eine rauchen, während ich im Gang vor der Wohnzimmertür an der Wand lehne. Aber dafür langt die Zeit nicht. Ich höre, wie meine Mutter im Zimmer den Schrank öffnet und ein Päckchen herausholt — nur eines?, denke ich – und dann versucht, mich zu täuschen. Sie will nicht, dass ich weiß, wo sie das Geschenk versteckt hat. Als ob ich es nach fünfzehn, fast sechzehn Jahren nicht wüsste. Aber wenn es ihr Freude macht. Sie zieht verschiedene Schubladen auf und zu, knallt mit der Lade ihres Schreibtischs. Sie raschelt mit Büchern und dem Vorhang. Langsam reicht es aber auch. Sie klopft sogar noch auf den Fernseher. Dann ruft sie in einem Singsang: »Du kannst kommen!« Wie ein kleines Mädchen beim Versteckspiel. So steht sie auch im Zimmer, die Wangen sind ihr vor Spaß am Spiel und vermutlich auch vom Wein rot geworden. Eine Haarsträhne steht steil von der Kopfhaut ab. Ihre Hände baumeln andeutungsweise, ein leichtes, nervöses Schwingen, sie will, dass es losgeht.
Sie ist sehr schön so, der ganze Raum ist sehr schön, die Sterne funkeln wie tausend zwinkernde Augen von allen Seiten,
werfen ihr Goldlicht auf meine Mutter. Sie glüht in der Mitte all dieses Glanzes, meine Mutter, der einsame Komet. Es ist tatsächlich nur ein Paket. Aber was für ein Paket. Es ist fast so groß wie ich, ein langgezogenes Quadrat, ein Sarg? Wie makaber.
Wohin mit meinem Geschenk für sie? Warten wir heute aufeinander? Ich drehe es in meinen fettigen, schwitzigen Händen und traue mich nicht hinein. »Komm, komm, Anni!«
Meine
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