Euro Psycho
auf und ab, bringt seine Knie Richtung Brust, was wohl so eine Art Aufwärmen sein soll. Rechts und links von ihm, recht nah an ihm dran, stehen die Turniermaskottchen Slawek und Slawko.
Als ich die weiße Linie erreiche, gebe ich dem neuen BeJoshi ein kraftloses High Five und schiele Richtung Bank – mein Kopf am Zerplatzen, mein Herz am Hämmern. Die letzte Sache, an die ich mich erinnern kann, ehe ich in unserer Coaching-Zone kollabiere, ist Slawek – oder ist es Slawko? –, der sich über mich beugt.
»King«, sagt er durch sein Latex-Maskottchenkostüm, »du sein ein fauliger Bastard.«
Fan-Meile
Nachdenklich und allein gehe ich durch Danzig hin unter zum Platz der Solidarität.
Ich sehe, wonach ich gesucht habe, die offizielle Fan-Meile. Da gibt es einen riesigen LED -Bildschirm am anderen Ende, der Wiederholungen und Zeitlupen vom Spiel zeigt. Der Platz ist gerammelt voll mit besoffenen England-Fans ohne Ticket, die immer noch ihre Niederlage betrauern.
Was für eine ungeheure Abschlachtung, sogar ohne mich auf dem Feld. Hagop Fanusian machte das zweite und das dritte rein. Also bin ich hierhergekommen, um mich unter die Leute zu mischen und nachzudenken. Anonym. Ich rücke meine Blackhawk!-Polypropylen-Sturmhaube zurecht, denn sollten mich die englischen Fans entdecken, könnte es auch hier Ärger geben. Aber eine Sturmhaube zieht keine Aufmerksamkeit auf sich. Ich meine, da draußen laufen Menschen in voller Kettenhemd-Montur herum. Heute habe ich einen Mann gesehen, der sich als die Stadt Bolton verkleidet hat.
Knapp 50 Meter von der Fan-Meile entfernt halte ich an, lausche, höre das entfernte Knacken von zertretenen Plastikbechern, das Jaulen: »Steve, Kumpel!«, »Toe-knee!«, »Hast du Mark gesehen?« Ich spähe Richtung Eingang des Fan-Fests, sehe die Maskottchen Slawek und Slawko mit ihren penetranten Scheißhaaren, ihren nichtssagenden Gesichtern und wie sie falsch herabgrinsen auf diese enttäuschten Fans, die jetzt von dannen ziehen. Durch die Sicherheitstrennnetze der Fan-Meile erkenne ich die Silhouetten anderer Anhänger, die zur Theke und wieder zurückwatscheln oder bäuchlings auf dem Kopfsteinpflaster liegen und sich gegenseitig »Ficker« und »Kumpel« und »Au weia« nennen.
Habe ich England betrogen?
Als ich näher ans Fan-Fest herankomme, rieche ich das verschüttete Carlsberg, das fußballerischste aller Biere. Und plötzlich wird alles klar. Alles rastet hörbar ein. Einst habe ich für England gespielt, habe das Trikot geliebt. Aber dann geschah etwas, was nicht in meiner Macht lag, und ich zog weiter. Und darin sind diese Fans scheiße, oder? Im Weiterziehen.
Was ich gelernt habe, ist, dass es die eigene Entscheidung des Spielers ist, zwischen Nationalmannschaften zu wechseln, dem Geld hinterherzujagen, weiterzuziehen wegen besserer Geschäftsbedingungen, wegen der Aussicht auf Titel und Pokale. Wohingegen – ich trete näher heran, sehe Männer zusammengesackt an der Bordsteinkante, Köpfe in den Händen, entehrt durch eine Niederlage – der National-Fan gefangen ist. Er hat das Team am Hals, aus dessen Pisspott-Land er stammt. Clubmäßig hingegen können die Fans dieser Tage auf ihr beschissenes altes Team pfeifen und dem Ruhm nachjagen – das ist der Fortschritt, wie wir ihn bereits besprochen haben –, aber ländermäßig stecken sie weiter fest, gefangen in irgendeinem nationalistischen Polyesterkäfig.
Dulce et Footballum est …
Es ist wie eine Zwangsehe, als ob einem auf sportliche Weise der Schwanz abgeschnürt wird.
Ich bin jetzt fast am Eingang zur Fan-Meile und sehe eine Wiederholung unseres ersten Tores: Fanusians Ecke, mein Kopfwischer, und mit seiner Zehenspitze stochert der einohrige Shawo den Ball ins Tor. Ich höre die Worte »Scheiße« und »King« und »Fotze«, die betrunken durch den Fan-Park gemurmelt werden.
Ich verstehe, was sie meinen.
Doch jetzt stört mich das nicht, jetzt schmerzt es nicht. Denn seit dem Spiel, seit meiner Kernschmelze, fühle ich mich … Frei. Ja, irgendwie frei, frei von Verantwortung, von der glühenden Notwendigkeit, mein Britannien zu lieben. Weil ich jetzt ein anderes Trikot trage.
Ich ficke eine fremde Prinzessin.
Fremd. Dieses Wort. Ist England mir nicht auch fremd geworden?
Ich stehe jetzt vor den Einlasstoren, glotze direkt in die Fan-Zone, diese erbärmliche Koralle der ungeprüften Zugehörigkeiten. Neben mir steht das Turniermaskottchen Slawko – oder ist es Slawek? –, das nach unten langt und
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