Euro Psycho
Korridor der Ungewissheit. Wenn ihr so wollt.
Der Ball segelt Richtung Tor. Ein Haufen von Spielern be müht sich, mit dem Kopf ranzukommen. Alle Verteidiger, alle Stürmer strecken sich, hängen sich rein. Sogar ihr Torwart Iker Casillas kommt raus, um den Ball abzugreifen. Aber unerklärlicherweise verfehlt er mit seinen riesenhaften Handschuhen den Ball und klatscht auf den Rasen.
Er grunzt, als er landet. Er bewegt sich nicht. Steht nicht auf.
Wie der Torwart im Champions-League-Finale.
Der Hüter ihres Tores ist abwesend. Der Ball wird vom Kopf ihres bulligen Innenverteidigers Carles Puyol abgelenkt und fliegt vom Tor weg. Zu mir.
Ihre Abwehr ist völlig ungeordnet, ihr Torwart ist verletzt und liegt der Länge nach auf dem grünen Rasen. Der Ball liegt an meinem Fuß. Das Tor ist mir ausgeliefert. Mit meiner ersten Berührung stoppe ich sauber den Ball, er liegt wie tot da. Ich habe das alles schon mal gesehen, ich bin schon mal hier gewesen …
Die auseinandergerissene Abwehr, der am Boden liegende Keeper, das offene Tor.
Der Ball liegt an meinem Fuß, ich habe Zeit.
Die Geschichte wiederholt sich …
Wie in der Champions League kommen mir Bilder des schmuddeligen Gerd Müller in den Sinn. Er hätte den mit seinem Hals oder der Rückseite seines Knies reingemacht … Bilder von Ajax’ Cruyff und Reals di Stéfano springen mir in den Kopf. Sie hätten den auch gemacht. Ihn reingeballert, ohne darüber nachzudenken.
Aber kann ich mich mit ihnen messen?
Beim letzten Mal wusste ich es nicht, diesmal weiß ich es.
Ich hole zum Schuss aus, wie in der Champions League. Damals in diesem Finale war der Ball weg. Von meinem Fuß stibitzt durch einen fußballerischen Wegelagerer, der ihn weggrätschte in Richtung unseres Tores. Meine Mannschaft außer Form, unsere Männer am Boden, nicht auf ihren Positionen.
Aber jetzt nicht. Diesmal nicht.
Der Ball bleibt in meinem Einflussbereich, das Tor ist mir ausgeliefert, die Euro 2012 zum Greifen nah. Und ich bin ein anderer Kev. Habe ich meinen korrupten Erzfeind nicht erschlagen? Die Liebe und ein fremdes Land erobert? Ich habe den höchsten Punkt der Ausholbewegung erreicht, ich bin bereit abzufeuern.
»Kev«, höre ich eine Stimme sagen.
»Kev«, höre ich noch einmal.
Es ist die feurige Stimme von Keegan, der sich ehrlich gesagt einen besseren Moment hätte aussuchen können. »Verpiss dich«, ich will mir nicht die Mühe machen, ihm zu antworten, schließlich steht gerade ein gewisses Fußballspiel an.
»Kev!«, Keegan besteht drauf. »Hör zu.«
Oh, verdammte Scheiße. »Was ist?«
»Ehre Shankley«, sagt Keegan.
Wie nervig das ist, zumal ich gerade keine Zeit für Rätsel habe.
Ehre Shankley? Was kann er damit meinen?
Ehre die schottische Trainerlegende Bill Shankley, kein Zweifel. Bill Shankley, der die Geschicke beim FC Liverpool fünfzehn Jahre lang gelenkt hat, sie zu drei Titeln und zwei FA -Cups führte. Bill Shankley, der den jungen Keegan 1971 für 33.000 Pfund vom Viertligisten Scunthorpe verpflichtete.
Bilder von Keegan kommen mir jetzt in den Kopf: zwanzig Jahre alt, große Augen, krauses Haar. Er fährt von Scunthorpe rüber nach Liverpool – über Woodhead, und da ihr fragt, die M62 war damals noch nicht gebaut –, um sich mit Shanks zu treffen und bei seinem neuen Club zu unterschreiben. Er trägt – diese Bilder von Keegan, die mich belästigen in diesem alles entscheidenden Augenblick – eine rote Krawatte, die er speziell für diesen Anlass gekauft hat. Einen Anlass, in bedrohlich anmutender Detailtreue wiedergegeben in Keegans Autobiografie.
Aber Ehre Shankley? Was kann er damit meinen? Die Bilder von einem beschwingten Jungprofi, einem Fußballer, der sich seine gelockte Dauerwelle noch gar nicht vorstellen kann. Der aber bald schon seinen kastanienbraunen Cortina gegen einen Datsun 240z eintauschen und sich bei einer gewissen Mrs. Lindholme in der Lilley Road einmieten wird.
Was will er mir damit sagen?
Keegan, um ehrlich zu sein, ich versuche hier Fußball zu spielen, versuche die Euro 2012 trotz minimale Chancen einzusacken. Dann fällt es mir ein, das Wissen, das Argument, das er anbringt …
Meine Welt bricht zusammen, stürzt ein.
Hat Keegan Shankley nicht geehrt, indem er den ersten Fußball-Themenpark der Welt vor den Toren Glasgows entwickeln und bauen ließ? Eine Attraktion inklusive einer Fünf-Zonen-Trainings-Akademie, wo du spezielle Fußbälle für das Spielen bei Flutlicht und so einen Scheiß bekommst.
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