Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
wie ein Boxer, für den es an der Zeit wäre, seine Handschuhe an den Nagel zu hängen. Seiner Frau erzählte er, er habe sich gestoßen, als er die Wagentür öffnen wollte. Seinen Mercedes hatte er endlich verkauft, und an die Türen des Lancias habe er sich noch nicht gewöhnt, sagte er.
Als sie das möblierte Zimmer betrat, wo sie außerhalb der Saison wohnte, fand Gerda Dutzende von Briefen vor. Allein schon bei der Berührung überkam sie die Verzweiflung. Ohne sie zu öffnen, warf sie alle in die Brennkammer im Küchenherd. Viele davon waren an Eva adressiert, doch auch die warf sie fort, als wären sie eine ungenießbare Salami mit zu viel Peperoni drin.
Wenn Eva einen milchkaffeefarbenen (aber auch hellgrauen, gelblichen oder schwarzen) Fiat 130 die Kehren zu ihrem Hof hinaufklettern sah, erstarrten ihre Beine, als hätten sie Wurzeln geschlagen, ihr Atem stockte und ihr Mund wurde trocken. Wenn Kürbisse zu Kutschen werden konnten und in manchen Fröschen verzauberte Prinzen steckten, warum sollte dann nicht plötzlich Vito auf dem Platz auftauchen?
Nein, es war sinnlos. Es funktionierte einfach nicht mehr. Sie war jetzt schon elf, und sosehr sie sich auch bemühte, an Märchen glaubte sie nicht mehr.
Das Einzige, was sie tun konnte, war, mit Ulli oben auf dem Nanga Parbat zu sitzen und so selten wie möglich in die Ebene zum Rest der Menschheit hinabzusteigen. Auf achttausend Metern war es kalt, und man bekam kaum Luft, doch zumindest thronte man über den Niederungen von Sehnsucht und Verzweiflung.
Ganz plötzlich, fast von einem auf den anderen Tag, begann sich Ullis Stimme zu verändern. Sein kindlicher Sopran wurde zunächst zu einem unschönen Krächzen, um dann, nach einigen Jahren, die Klangfülle eines Tenors anzunehmen. Doch auch wei terhin zeigte er kein Interesse an der Gesellschaft von Mädchen mit Ausnahme von Eva. Morgens erwachte er nach von seltsamen Tieren bevölkerten Träumen mit klebriger Schamgegend.
Eva war vielleicht vierzehn, als sie die männlichen Blicke zu spüren begann, die auf sie gerichtet waren. Eines Tages lief sie mit Gerda durch die Hauptstraße ihres Städtchens, als sie hörte, dass eine Gruppe Jugendlicher ihnen nachpfiff. Gerda drehte sich nicht um, überzeugt, dass diese bewundernden Pfiffe wie immer, seit sie zur Frau geworden war, nur ihr gelten konnten. Als Eva sich umdrehte und den erregten, ein wenig ängstlichen Blick eines der Jungen bemerkte, wurde ihr klar, dass sie in Wahrheit ihr nachschauten, ihr mit ihren langen, nackten Beinen, die unter dem Minirock hervorschauten, ihren bereits stark ent wickelten Brüsten, die ihre Bluse mit den Schmetterlingen darauf wölbten. Sie schaute zu ihrer Mutter, die nicht auf die lästigen Komplimente eingehen wollte und mit durchgedrücktem Rücken und verkniffenem Mund ne ben ihr herging. Eva öffnete die Lippen, um sie über die Situation aufzuklären, besann sich dann aber, und ein wenig verlegen, innerlich jubelnd und mit einem vagen Gefühl des Verrats hielt sie den Mund.
Km 1397
Es ist nicht Vito, sondern sein Sohn Gabriele, der zum Bahnhof gekommen ist, um mich abzuholen. Er lädt meinen Trolley in den Kofferraum seines Opels Vectra, und einen Moment lang habe ich Carlo, mit dem gleichen Vorgang beschäftigt, vor Augen. Es scheint ein ganzes Jahr und nicht erst zwei Tage her zu sein.
Es sei zu spät, um zu Vito zu fahren, sagt er. Der Knochenkrebs halte ihn die ganze Nacht wach, und nur am frühen Abend gelinge es ihm, ein wenig zu schlafen. Gabriele bringt mich erst einmal ins Hotel, Vito werde ich dann morgen besuchen. Während der Autofahrt kann ich der Versuchung nicht widerstehen, ihn verstohlen zu betrachten, und ihm geht es wohl ebenso. Als wir uns gegenseitig dabei ertappen, müssen wir beide lachen.
Vitos Sohn und ich, lachend in einem Auto.
Was es nicht alles gibt!
Er hat mich weder mit »Signora«, noch mit »Signorina« angesprochen, sondern sogleich geduzt, wie ich ihn auch, und von Anfang an war das richtig und normal. Gabriele redet, während er den Wagen recht flott durch den ruhigen Verkehr steuert. Von Reggio Calabria sehe ich nichts, weil ich nur Augen habe für das scharfe Profil und den ein wenig schiefen Mund des Menschen, der, seit er auf der Welt ist, Vito »Papa« nennen darf.
Er weiß einiges über mich. Als er zwanzig war, sagt er, habe Vito ihm von dieser Frau in Norditalien erzählt, die er als junger Mann geliebt hat. Und von ihrer kleinen Tochter.
»Und ich habe mir
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