Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
»Natürlich nicht.«
Ich nahm Lehrerin Florences Hand und wollte ihr danken – für ihr Verständnis, für ihre Hilfe, dass sie mich nicht um Erklärungen gebeten hatte –, doch in diesem Moment erschien Schulleiterin Burns in der Türöffnung und schürzte die Lippen. »Ich habe nach Euch gesucht, Prinzessin«, ihr Blick wanderte von mir zu Lehrerin Florence. »Ich würde gern unter vier Augen mit Euch in meinem Büro sprechen.« Sie wandte sich an Lehrerin Florence. »Bitte sorgen Sie dafür, dass die Mädchen rechtzeitig zu Bett gehen.«
Danach verschwand sie auf dem Gang, ohne sich weiter darum zu kümmern, ob ich ihr folgte. Ich wagte nicht, Lehrerin Florence beim Hinausgehen ins Gesicht zu sehen. Ich fühlte den Schlüssel in meiner Tasche und drehte ihn zwischen meinen Fingern, sein Gewicht beruhigte mich. Kurz bevor ich über die Schwelle auf den Gang hinaustrat, nahm ich ihn heraus und schob ihn in den Ausschnitt meines Kleides.
Die Lichter im Gang erloschen. Schulleiterin Burns hielt eine Laterne, während wir die Treppen zu ihrem Büro hinunterstiegen. Meine Wangen brannten bei dem Gedanken, dass ich in diesem Zimmer sitzen musste. Außer, um bestraft zu werden, ging niemand dorthin. Ich fühlte mich wie ein Kind, nervös und verängstigt, und hätte am liebsten all meine Missetaten gebeichtet.
Als wir im Büro waren, stellte sie die Laterne auf den Schreibtisch, dann bedeutete sie mir, mich zu setzen. Die Tür knallte zu und ließ das Laternenlicht flackern. Ich sah sie an, straffte die Schultern und weigerte mich, den Blick zu senken. »Kann ich Ihnen bei etwas behilflich sein, Schulleiterin?«, fragte ich. »Die Reise war sehr anstrengend. Ich würde gern zu Bett gehen.«
Sie ließ ein kleines Lachen hören. »Ja, Prinzessin«, sagte sie mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme. »Das kann ich mir vorstellen.« Sie setzte sich vor mich, ihr dralles Gesäß drückte sich auf die Tischkante. Ihr linkes Bein baumelte vor und zurück, vor und zurück, wie ein Metronom, das den Takt schlägt.
Meine Hände waren feucht vor Schweiß. Ich sah sie weiter an. Sie konnte mich alles Möglichen bezichtigen. Es war nun egal. Ich dachte nur an Pip, Arden und Ruby und den Schlüssel, der gegen meine Brust drückte – die einzige Chance, die meine Freundinnen hatten. »Du hieltest dich wohl für schlauer als alle anderen«, sagte sie kalt. »Und dachtest, wir wären Lügnerinnen und hätten dich getäuscht. Aber nun bist du hier, die Tochter des Königs, und hältst Lobeshymnen auf die Ausbildung, die du erhalten hast.«
»Worauf möchten Sie hinaus?«, fragte ich. »Haben Sie mich einbestellt, um mir eine Standpauke zu halten?«
Die Schulleiterin beugte sich vor, ihr Gesicht war nun auf gleicher Höhe wie meines. »Ich habe dich hierherbestellt, weil ich wissen möchte, wer dir geholfen hat. Sag mir, wer es war.«
»Mir hat niemand geholfen«, murmelte ich. »Ich habe nicht …«
»Du lügst mir doch ins Gesicht.« Sie lachte. »Erwartest du, dass ich dir abnehme, du hättest es allein über diese Mauer geschafft?«
Sie ging also davon aus, dass ich darübergeklettert war. Das war unmöglich – sie war fast zehn Meter hoch –, trotzdem korrigierte ich sie nicht, sondern witterte meine Chance und spielte mit. »Ich habe ein Seil im Lehrerschrank gefunden. Viele Meter lang. Ich habe mir den Arm an dem Draht zerschnitten, der auf der Mauer liegt.« Ich zeigte ihr, wo mir die Tür des Möbelhauses bei der Flucht vor dem Lieutenant die Haut aufgerissen hatte. Die Narbe war noch immer rosa.
Sie legte den Kopf schief, als denke sie darüber nach. »Woher wusstest du über die Absolventinnen Bescheid?«, fragte sie.
»Ich hatte immer meine Vermutungen«, sagte ich kalt. Allmählich gewann ich die Kontrolle über die Situation, mit jeder Frage, die ich zu ihrer Zufriedenheit beantwortete, wurde meine Stimme ruhiger. »Aber es ist egal, wie ich geflüchtet bin. Dass ich hier bin, ist das Einzige, was zählt. Und ich habe vor den Mädchen gesprochen. Ich habe eine Begründung für mein Verschwinden geliefert und Ihre Schule in den höchsten Tönen gelobt. Morgen früh möchte ich meine Freundinnen sehen.«
»Das ist nicht möglich«, sagte sie schnell. Sie stand auf und stellte sich mit verschränkten Armen vor das Fenster. Draußen war es dunkel. Einige Lampen strahlten die Mauer an, der Maschendraht glitzerte im Licht. »Das würde zu jeder Menge Fragen führen. Es würde die Schülerinnen
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