Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
verblüfft, doch vermutlich kostet es sie emotional zu viel, wenn sie zugibt, dass ich ihr auch gefehlt habe. Aber das ist okay. Selbst wenn sie es nicht zugibt, weiß ich, dass sie mich vermisst hat. Das sehe ich daran, wie in der Mitte ihrer nach wie vor zornesroten Aura ein kleiner pinkfarbener Fleck aufflammt.
Auren lügen nie. Nur Menschen lügen.
»Ich war im Sommerland«, sage ich und sehe zwischen ihr und Mr. Muñoz hin und her.
»In Santa Barbara?« Sie wirft mir einen skeptischen Blick zu, aber den lasse ich an mir abgleiten.
»Nein. Nicht in dem Stranddorf in Santa Barbara, sondern im echten Sommerland. Dem ersten Sommerland. Der mystischen Dimension zwischen der hier und der direkt dahinter.«
Mr. Muñoz verspannt sich, und sein ganzer Körper geht in Alarmposition, während er sich aufs Schlimmste gefasst macht. Sabine verzieht grimmig den Mund, kneift die Augen zu und sagt: »Das verstehe ich nicht.«
Ich lehne mich vor und rutsche an den äußersten Rand meines Sessels, ehe ich weiterspreche. »Ich weiß. Glaub mir, ich verstehe dich total gut. Es ist ganz schön viel auf einmal. Vor allem, wenn man zum ersten Mal davon hört. Bei mir war es genauso. Ich habe es auch lange Zeit geleugnet. Eigentlich beinahe so lange, bis es nicht mehr ging. Ich weiß auch, dass es für dich noch schwerer ist, weil du an überhaupt nichts glaubst, was außerhalb deiner Behaglichkeitszone liegt, und lieber alles wegschiebst, was sich nicht direkt vor deinen Augen abspielt. Aber der Grund, warum ich mich dir trotzdem anvertrauen will, trotz der Sisyphusarbeit, die mir damit bevorsteht, ist der, dass ich die Spielchen leid geworden bin. Ich habe es satt, dich ständig anlügen zu müssen. Ich habe es satt, Dinge vor dir verbergen zu müssen. Aber vor allem habe ich es satt, so hart an dieser komplett erfundenen, falschen Version von mir arbeiten zu müssen, nur damit du weiter das glauben kannst, was dir passt.«
Ich halte einen Moment lang inne, um ihr Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, doch sie schaut nur so kühl und ungerührt drein wie immer, also rede ich hastig weiter. »Die ersten zwei Wochen, die ich weg war, war ich bei Damen. Und ich weiß, dass du darüber informiert bist, weil ich weiß, dass er es dir gesagt hat. Aber wahrscheinlich hast
du nicht geahnt, dass ich eigentlich felsenfest davon ausgegangen bin, dass ich nie mehr zurückkomme. Ich hatte mir geschworen, nach dem Schulabschluss weit weg zu ziehen und dich nie wieder zu sehen. Und zwar nicht, weil ich mich rächen oder dich bestrafen wollte – ganz egal, was du auch denken magst, ich war dir nie böse. Der Grund, warum ich dich für immer verlassen wollte, ist der, dass ich wirklich geglaubt habe, es würde unser beider Leben einfacher machen. Aber jetzt ist alles anders oder zumindest wird bald alles ganz anders werden …«
Ich schlucke schwer, werfe Mr. Muñoz einen Blick zu, und als er mich durch ein Nicken ermuntert weiterzusprechen, tue ich es. »Aber ehe diese richtig große Veränderung stattfinden kann, wollte ich mit dir ins Reine kommen. Ich wollte einen letzten Versuch unternehmen, dich zu überzeugen. «
»Und was ist das nun, was ich glauben soll?«, fragt sie, doch ihre trotzig hochgezogene Braue und ihr herausfordernder Tonfall sagen mir, dass sie es bereits weiß.
»Du musst mir glauben, dass ich kein jämmerlicher, verrückter, nach Aufmerksamkeit hungernder Teenager bin, der durch den Verlust seiner Familie so verletzt und traumatisiert ist, dass er vorgibt, übersinnliche Kräfte zu haben. Du musst mir glauben, dass ich weder eine Schwindlerin noch eine Blenderin bin, die die Leute übers Ohr haut. Und der Grund, warum du mir das glauben musst, ist, dass es die Wahrheit ist. Ich kann hellsehen. Ich kann die Gedanken anderer Menschen hören. Außerdem sehe ich die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen allein durch eine Berührung, genau wie ich Auren sehe und mit sämtlichen Geistern in Kontakt stehe, die noch auf der Erdebene herumlungern, obwohl sie schon längst hätten weiterziehen
sollen. Und darüber hinaus bin ich auch noch unsterblich. «
Ich halte inne und warte ab, damit sie meine Worte verarbeiten kann und mein Geständnis zur vollen Geltung kommt. Ich weiß, dass es so weit ist, als ihre Aura grell zu flammen und zu wallen beginnt und ich mich regelrecht wundere, dass ihr dazu nicht auch noch Rauchwolken aus den Ohren schießen.
»Der rote Saft, den ich immer trinke?« Ich lege den Kopf schief und
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